Vorwurf: Die starke Zunahme von Finanzspekulationen an den Agrarbörsen koppelt die Preise von der Realwirtschaft ab.
Fakt ist, dass das Volumen von Finanzinvestitionen in Agrarrohstoffe seit etwa 2005 stark zugenommen hat, allein zwischen 2009 und Ende 2011 um knapp die Hälfte, auf über 80 Milliarden Dollar. Nicht nur Hedgefonds pumpen ihr Geld in die Agrarmärkte, auch Banken, Versicherungen, Pensionskassen und Privatanleger sind dabei. Futures sind attraktiv für Spekulanten, weil über sie mit kleinen Einsätzen hohe Summen und letztlich auch große Mengen Rohstoffe gehandelt werden können. Ein Privatanleger, der 5000 Euro in Weizen-Zertifikate steckt, investiert damit in Futures, die das Recht auf Lieferung von 24 Tonnen Weizen verbriefen. Bei Großanlegern funktioniert das genauso.
An der weltweit wichtigsten Agrarbörse CBoT in Chicago werden täglich Weizen, Mais oder Sojabohnen im Wert von mehreren Milliarden Dollar gehandelt. Weltweit werden Agrarderivate umgesetzt, deren Volumen ein Vielfaches der Ernte ausmachen können. 2010 beispielsweise betrug das Handelsvolumen der Derivate auf Sojabohnen das 19-Fache der Welternte. Viele NGOs schließen daraus, dass sich die Agrarpreise wegen der Spekulation längst von der Realwirtschaft abgekoppelt haben. Tatsächlich fällt auf, dass die zunehmenden Beträge, die an Terminmärkten in Rohstoffkontrakte geflossen sind, zusammenfielen mit scharfen Sprüngen bei Nahrungsmittelpreisen.
Für Dimitri Speck, Rohstoffanalyst des Vermögensverwalters Staedel Hanseatic aus Riga, lässt sich allerdings zwischen Mittelzuflüssen und den Preissteigerungen kein Zusammenhang feststellen: „2006 etwa gab es hohe Mittelzuflüsse in die Rohstoffmärkte, die Preise aber liefen seitwärts. Hingegen stiegen die Preise 2007 bei abnehmenden Mittelzuflüssen. Und während des Einbruchs der Rohstoffpreise im zweiten Halbjahr 2008 kam es kaum zu Mittelabflüssen.“ Von 2009 an bis ins erste Quartal 2011 hinein, als die Notenbanken die Finanzmärkte weltweit mit Geld fluteten, liefen die Rohstoffpreise tatsächlich parallel mit den Mittelzuflüssen nach oben. Preistreibend sei dann aber die physische Nachfrage nach Rohstoffen gewesen. Sie zog an, nachdem sich die Weltkonjunktur erholt hatte. Und obwohl es seit dem zweiten Quartal 2011 kaum noch Mittelzuflüsse gab, sind die Nahrungsmittelpreise 2012 dennoch gestiegen.
Börsenumsätze und Mittelzuflüsse allein sind ohnehin nicht aussagekräftig. Offenen Kaufpositionen an Terminbörsen stehen immer genauso viele Verkaufspositionen gegenüber. Entscheidend sind die Positionen der spekulativen Marktteilnehmer. Als der Preis des Mais-Futures an der CBoT im Sommer 2012 seinen bisherigen Rekord bei 8,30 Dollar pro Scheffel erreichte, waren Spekulanten mit netto 344 .000 Kontrakten auf der Käuferseite. Unter dem Strich hielten sie Lieferansprüche auf gut 44 Millionen Tonnen Mais im Wert von rund 14 Milliarden Dollar – rund 0,5 Prozent des weltweiten Maisverbrauchs. Beeindruckend, aber: Diese spekulative Nachfrage lag noch weit unterhalb der Spitze vom Februar 2011. Damals hielten Spekulanten sogar netto 498.000 Kaufkontrakte, während der Mais-Future nur bei 6,70 Dollar pro Scheffel notierte. Warum aber zog der Maispreis 2012 an, obwohl die Nettonachfrage der Spekulanten geringer war? Die Erklärung: Die weltweiten Lagerbestände waren, gemessen am Verbrauch, auf den tiefsten Stand seit Anfang der Siebzigerjahre gesunken. Und im Mittleren Westen der USA brach eine der schlimmsten Dürren aus. Ernteausfälle drohten, der Maispreis schoss nach oben.
Wer das angesichts der realen Ernten gewaltige Volumen der Börsenumsätze moniert, übersieht eins: Hinter einer Tonne realem Weizen steht mehr als nur ein Absicherungsgeschäft. Landwirt, Agrarhändler, Mühle und Lebensmittelproduzent sichern ihren Preis ab. „Hinzu kommt, dass die Teilnehmer in der Lieferkette zwischen Geschäftsabschluss und Lieferung mehrere Kontrakte hintereinander abschließen“, sagt Volker Petersen vom Raiffeisenverband in Berlin. Um so viele Geschäfte abzusichern, sind Finanzinvestoren nötig. Denn: „Es ist unrealistisch, dass sich für alle notwendigen Absicherungsgeschäfte in der Agrarbranche eine Gegenpartei findet“, sagt Jens Ripken, Generalbevollmächtigter beim Agrarhändler Agravis. Am Terminmarkt treten tendenziell weniger Verarbeiter (die sich vor steigenden Preisen schützen) als Produzenten auf, die sich gegen fallende Preise absichern wollen. In die Bresche springen Finanzinvestoren, sie gleichen diese Asymmetrie aus. Würden sie sich zurückziehen, fielen sie als Gegenpartei der Bauern aus, deren wirtschaftliches Risiko wäre höher. „Spekulanten sind das notwendige Schmiermittel an den Terminbörsen“, sagt Landwirt Peill. Raiffeisen-Handelsexperte Petersen wären etwas mehr Spekulanten ganz recht. Es fehle an den europäischen Terminbörsen für Agrarrohstoffe an Liquidität. Nur ein bis zwei Prozent des weltweiten Agrarhandels über die Börse werde in Europa abgewickelt.