Etihad-Chef Gammell reagiert nicht minder deutlich. In einem kurzen Schreiben an Air-Berlin-Finanzer Courtelis am 11. August lehnt er das Lufthansa-Angebot ab. Ab sofort werde Etihad Air Berlin kein Geld schicken.
Sofort trommelt Courtelis den Vorstand zusammen, auch Chefjuristin Michelle Johnson ist dabei. „Wir haben keinen Going Concern mehr“, eröffnet Courtelis die Runde, und auch Nichtjuristen wie Technikchef Oliver Iffert in der Runde wissen: Das Schicksal von Deutschlands zweitgrößter Airline ist an diesem Freitagnachmittag besiegelt. Air Berlin steht vor der Insolvenz.
Nur das Wochenende bleibt zur Vorbereitung. Eilig suchen Winkelmanns Manager Kontakt zu den Juristen der Wirtschaftskanzlei Freshfields, die Air Berlin seit Jahren begleiten. Anschließend ruft Winkelmann Spohr an. „Dann gingen ein paar der irresten Tage los, die ich je erlebt habe“, erinnert sich der Lufthansa-Chef.
Die Freshfields-Juristen melden sich gegen 22.30 Uhr beim Düsseldorfer Sanierungsexperten Frank Kebekus, der eigentlich am nächsten Tag ins Rheingau aufbrechen wollte. Der Jurist hat Hunderte Unternehmen durch die Pleite gesteuert, gilt in der Branche als bestens verdrahteter Verhandlungsprofi und soll nun als Generalbevollmächtigter von Air Berlin ein Manöver absolvieren, das es bei Airline-Insolvenzen in Deutschland anders als in den USA bis dato nicht gab: Trotz Pleite soll Air Berlin weiterfliegen. Doch dafür muss die Politik mitspielen.
Am gleichen Abend informiert Winkelmann Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU), dass Air Berlin Insolvenz beantragen muss und die Flugzeuge am Boden bleiben, wenn nicht schnell eine Lösung gefunden wird. Gut eine Million Urlauber drohen überall auf der Welt zu stranden. Mitten im Bundestagswahlkampf. Nur unter zwei Voraussetzungen kann das noch abgewendet werden: Das Luftfahrt-Bundesamt muss überzeugt werden, dass es trotz Pleite keine Sicherheitsrisiken gibt, wenn Air Berlin weiterfliegt. Zum anderen müssen die wichtigsten Geschäftspartner, etwa die Flughafenbetreiber, beruhigt werden. Für beides braucht es Geld, das Air Berlin nicht hat. Der Staat soll einspringen. Dobrindt rotiert, ein Krisentelefonat folgt dem nächsten.
Die Chronik von Air Berlin
Vor 38 Jahren hob der erste Air-Berlin-Flieger ab. Alles begann mit alliierten Sonderrechten zur Landung im geteilten Berlin. Nach der Wende wuchs Air Berlin zur Nummer Zwei am Himmel über Deutschland heran, doch dann folgte eine jahrelange Krise.
1978: Gründung als Chartergesellschaft durch den Ex-Pan-Am-Pilot Kim Lundgren. Erstflug am 28. April 1979 von Berlin-Tegel nach Mallorca. Die Flotte umfasst zwei Maschinen.
1991: Im April kauft der LTU-Manager Joachim Hunold die Mehrheit der Anteile. Es gibt kurz darauf 15 Flüge pro Tag. Air Berlin expandiert und stationiert zunehmend auch Flugzeuge auf Regionalflughäfen.
1998: Mit dem Mallorca Shuttle Einstieg ins Linienfluggeschäft.
Einstieg zu 25 Prozent bei der österreichischen Fluggesellschaft Niki des früheren Rennfahrers Niki Lauda.
Börsengang und Kauf der Fluggesellschaft dba.
Kauf des Ferienfliegers LTU, damit auch Interkontinentalflüge.
Air Berlin rutscht in die roten Zahlen, legt das erste Sparprogramm auf: Strecken fallen weg, Flugzeuge werden ausgemustert. Die Übernahme des Ferienfliegers Condor scheitert.
Air Berlin kündigt für 2012 den Eintritt in das Luftfahrtbündnis Oneworld an.
Hunold wirft das Handtuch, Hartmut Mehdorn übernimmt. Ein weiteres Sparprogramm soll das operative Ergebnis um 200 Millionen Euro verbessern. 18 der 170 Maschinen werden verkauft.
Die arabische Staatsairline Etihad erhöht ihren Anteil von knapp 3 auf 29,2 Prozent und stützt die Airline mit einem 255-Millionen-Dollar-Kredit. Ein neues Sparprogramm beginnt. Der Verkauf des Vielfliegerprogramms an Großaktionär Etihad bringt nur vorübergehend wieder schwarze Zahlen.
Wolfgang Prock-Schauer wird Vorstandschef und verschärft das von Mehdorn im Vorjahr aufgelegte neue Sparprogramm. Jeder zehnte Arbeitsplatz fällt weg, die Flotte schrumpft auf 142 Maschinen.
Im Februar löst Stefan Pichler den glücklosen Prock-Schauer ab. Air Berlin macht 447 Millionen Euro Verlust - so viel wie nie.
Nach einem juristischen Tauziehen kann Air Berlin den größten Teil der wichtigen Gemeinschaftsflüge mit Etihad weiter anbieten. Die Zahlen bessern sich nicht. Gespräche mit Lufthansa über einen Verkauf von Geschäftsteilen beginnen. Mit einem tiefgreifenden Umbau und der Streichung von bis zu 1200 Arbeitsplätzen will Air Berlin seine Krise überwinden.
Air Berlin bekommt einen neuen Chef. Der Lufthansa-Manager und früheren Germanwings-Chef Thomas Winkelmann wird Vorstandschef. Air Berlin führt ihren Flugbetrieb in zwei getrennten Geschäftsfeldern weiter: Langstreckenflüge und Städteverbindungen in Europa werden zusammengefasst, Urlaubsflüge unter der Marke Niki geführt. Lufthansa erklärt sich bereit, Air Berlin zu übernehmen, wenn der Großaktionär Etihad zuvor die Schulden übernähme.
Air Berlin meldet Insolvenz an. Zuvor hatte Etihad seine finanzielle Unterstützung eingestellt. Ein 150-Millionen-Euro-Kredit des Bundes soll den Flugbetrieb zunächst sichern.
Fast 40 Jahre nach dem Start der ersten Air-Berlin-Maschine in Berlin-Tegel landet am 27. Oktober 2017 um 23.45 Uhr der letzte Air-Berlin-Flieger dort. Die Zukunft der Angestellten und vieler Unternehmensteile ist zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss.
Ausgerechnet der Tagungsraum mit dem Namen Abu Dhabi wird auf den Vorstandsfluren der Air-Berlin-Zentrale zum War Room umfunktioniert, zur Leitstelle, in der alle Informationen zusammenlaufen. Hinter der breiten Fensterfront ist der Fernsehturm zu erkennen, an den dunklen Holztischen ist Platz für die Wirtschaftsprüfer von KPMG sowie die Juristen von Freshfields, Finkenhof und BRL. Als am Montagmorgen die ersten Angestellten Gebäude 3 betreten, wundern sich selbst die beratererprobten Air Berliner über die „Anzugdichte“. Jetzt muss es schnell gehen.
Dringt die Nachricht nach draußen, dass Air Berlin vor der Pleite steht, würden Flughäfen die Maschinen nicht mehr starten lassen, Buchungsdienstleister keine Tickets mehr verkaufen. Der Flugbetrieb bräche zusammen. Immer wieder telefonieren Kebekus und Winkelmann mit Dobrindt und Wirtschaftsstaatssekretär Matthias Machnig. Immer wieder gibt es Verzögerungen. Erst am Abend ist sicher, dass 150 Millionen Euro der bundeseigenen KfW-Bank an Air Berlin fließen sollen. Das Unternehmen muss mehr als neun Prozent Zinsen zahlen und als Sicherheiten so gut wie alle verbliebenen Werte an die KfW verpfänden: Start- und Landerechte, die Beteiligung am österreichischen Ferienflieger Niki und an der Luftfahrtgesellschaft Walter. Reicht das aus? „Wir können mit großer, großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass der Steuerzahler, das nicht bezahlen muss“, wird Bundeskanzlerin Angela Merkel später in die Kameras sagen. Ein Satz mit Folgen, auch wenn zunächst alles nach Plan läuft.