Arbeitsbedingungen bei Amazon und Co. „Missstände wie in der Fleischindustrie“

Amazons Arbeitsbedingungen stehen schon seit geraumer Zeit in der Kritik. Jetzt legt Verdi den Finger in die Wunde. Quelle: dpa

Die Gewerkschaft Verdi prangert die Zustände in der Paketbranche an: Stress, Kontrolle, hohe körperliche Belastung und kaum Anerkennung. Besonders erschreckend seien die Bedingungen bei einem Anbieter: Amazon.

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Manche Paketboten erhalten 75 Euro für einen Tag Arbeit, einfach bar auf die Hand, berichtet die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Andrea Kocsis. Für das Geld sollen sie um 8 Uhr morgens anfangen: Pakete einladen, in die Innenstädte fahren, dort den ganzen Tag von Wohnungstür zu Wohnungstür eilen, teilweise zwanzig Kilo schwere Pakete Altbau-Treppenhäuser hochschleppen, bis um 18 Uhr oder sogar noch später endlich alle Kartons verteilt seien. Mit solchen Strategien unterlaufen Subunternehmer in der Paketbranche den Mindestlohn, sagt Kocsis. „Das ist ein System der Ausbeutung.“

Sie sitzt in Berlin in einem Konferenzzimmer, in der Mitte von Hufeisen-förmig aufgestellten Tischen, rechts und links von ihr die Vorsitzenden der Gesamtbetriebsräte von DHL, Hermes, DPD, FedEx und UPS. Die Stimmung ist ernst, die Mienen angespannt. Zwei Wochen vor Heiligabend stehen die Paketdienste unter Hochspannung, etwa 22 Millionen Pakete müssen die Boten aktuell am Tag zustellen – teils unter prekären Bedingungen. Die Gewerkschaft Verdi will davor in dieser Pressekonferenz warnen, und ganz besonders vor den Zuständen bei einem Unternehmen: „Für alle Paketdienstleister ist Amazon und die dort vorherrschenden Arbeitsbedingungen das Hauptproblem“, so Kocsis.

Dass Zusteller und Zustellerinnen einen harten Job haben, dass es Probleme mit Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit in der Branche gibt, ist seit langem bekannt. Doch inzwischen haben die Zustände „ein unerträgliches Maß angenommen“, warnt Kocsis. Das liege einerseits an der Coronapandemie, in der noch mehr Menschen online Pakete nach Hause orderten als je zuvor. Ein anderer Grund aber sei der Vormarsch von Amazon.

Der Onlinehändler hat in den vergangenen zwei Jahren in ganz Deutschland Verteilzentren aufgebaut. Die Paketboten tragen zwar Amazon-Jacken und steuern auch Wagen mit Amazon-Logo, angestellt sind sie jedoch bei Subunternehmern; manchmal sind sie komplett als Selbstständige unterwegs. Auch Hermes und DPD haben nur wenige festangestellte Paketboten und gerieten für die Zustände bei ihren Subunternehmern in der Vergangenheit immer wieder in die Kritik. Doch die Zusammenarbeit mit den Subunternehmern ist für die Paketdienste günstiger und auch flexibler, als die Boten direkt anzustellen. Außerdem lassen sich in Deutschland nur wenige Arbeitnehmer finden, die zu diesen Konditionen arbeiten wollen.

Häufig werben die Subunternehmer daher auch Arbeitskräfte aus Osteuropa und auch aus Ländern außerhalb der EU an, berichtet Verdi. Diese Zusteller und Zustellerinnen sprechen häufig nur wenig Deutsch und seien deshalb besonders in Gefahr, in prekäre Arbeitsbedingungen zu geraten. „Die Menschen, die hier hinkommen, können sich dann keine Wohnung und keine Miete leisten“, sagt Kocsis. Stattdessen hausten sie häufig in Wohncontainern, zu dritt oder viert in einem Zimmer von zehn Quadratmetern. Es gebe Fälle, in denen kranken Zustellern die Lohnfortzahlung verweigert würden. Manche Zusteller müssten sogar „Essen im Müll suchen“, berichtet Kocsis.

Die prekären Bedingungen in diesem Teil der Branche setzt selbst die Anbieter unter Druck, die vor allem festangestellte Zusteller haben. „Der Kostendruck durch Mitbewerber wie Amazon wird immer stärker und führt dazu, dass andere sich anpassen müssen“, sagt etwa Hartmut Schul, Gesamtbetriebsratsvorsitzender von FedEx. Als im Mai der Haustarifvertrag von FedEx in Deutschland auslief, habe sich das Unternehmen wegen des steigenden Kostendrucks gegen eine Verlängerung gesperrt. Nun arbeiten die FedEx-Beschäftigen stattdessen nach den Bedingungen der Logistikflächentarifverträgen, sagt Schul. Für viele Angestellte bedeute das eine Verschlechterung beim Arbeitsschutz und auch den Finanzen.

Amazon wehrt sich gegen die Vorwürfe. Als bekannter Name sei Amazon „zur Projektionsfläche für Organisationen geworden, die Aufmerksamkeit für ihre Themen suchen“, sagte ein Unternehmenssprecher. „Tatsächlich entsprechen die Aussagen nicht der Wirklichkeit der Tausenden an Menschen, die bei Lieferpartnern in ganz Deutschland beschäftigt sind.“ So müssen die Amazon-Boten laut Vertrag pro Stunde und nicht pro Paket bezahlt werden, der Einstiegslohn liege bei 12 Euro. Außerdem führe Amazon regelmäßig Kontrollen bei Subunternehmern durch, so der Sprecher. Bei Problemen könnten sich die Zusteller und Zustellerinnen auch in ihrer Sprache an eine Hotline wenden.

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Der Gewerkschaft Verdi reicht das nicht. „Wir müssen wegkommen von einem Geflecht von Subunternehmern“, so Kocsis. Dazu fordert die Gewerkschaft die Vereinfachung von Zollkontrollen, damit die Beamten effektiver gegen Schwarzarbeit oder das Unterlaufen des Mindestlohns in der Branche vorgehen können. Modelle wie Amazon Flex, bei der Selbstständige mit eigenem Auto Pakete austeilen, sollen abgeschafft werden. Am besten wäre es, wenn Subunternehmer-Strukturen ganz verboten werden und alle Anbieter ihre Paketboten direkt anstellen müssen. „Wir sehen die gleichen Missstände wie in der Fleischwirtschaft“, sagt Kocsis, „dort hat man diesen Arbeitsverhältnissen auch einen Riegel vorgeschoben.“

Mehr zum Thema: So fühlt sich der Lieferboom an für die, die ihn am Laufen halten: Mehr Deutsche denn je erledigen ihren Einkauf online, lassen sich Sushi und Pizza liefern. Fünf Zusteller haben dokumentiert, was das für sie bedeutet.

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