Autor für Netflix Der berechnete Zuschauererfolg

Netflix und Big Data Quelle: PR

Drehbuchautorin Dinah Marte Golch schreibt für den Streamingdienst Netflix an der Serie „Dogs of Berlin“ und schätzt den Mut des Unternehmens zu anspruchsvollen Inhalten – der basiert auf Analyse des Zuschauerverhaltens.

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Wenn der untreue Ex-Partner fort ist, fällt es leicht, die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit auszuradieren. Zumindest auf Netflix. Einfach in die Einstellungen gehen und die Historie löschen. Schon 24 Stunden später bekommt man weder die Herz-Schmerz-Serien oder Kampffilme als Vorschlag, die man zwar selbst nur widerwillig oder eben gar nicht geschaut hat, wohl aber der ehemalige Lebensgefährte. Ein gemeinsamer Netflix-Account trägt den Geschmäckern aller Nutzer Rechnung – möglich macht das die Software, die den Grundstein für den Erfolg des Bezahl-Streamingdienstes legt.

Netflix weiß, wie lange die Zuschauer wirklich dranbleiben, weiß, an welcher Stelle sie aussteigen und bei welchem Vorschaubild sie wahrscheinlich auf „Play“ klicken.

Bereits 2006 lobte der Streamingdienst einen Preis aus für einen Algorithmus, der aus dem Zuschauerverhalten am besten herauslesen kann, welche Serie, Film oder Dokumentation der Kunde wohl als nächstes gerne sehen würde. Bevor sich Netflix die Rechte für die Erfolgsserie „House of Cards“ sicherte, vertieften sie sich in ihre von Zuschauern generierten Daten. Die Verantwortlichen wussten, dass viele Kunden David Finchers „The Social Network“ anfingen – und auch bis zum Ende dranblieben. Dass die englische Originalversion von „House of Cards“ gut lief – und diese Kunden auch häufig Filme mit Kevin Spacey und/oder David Fincher guckten. Die Trailer im Programm, die die etwaigen Interessenten zu sehen bekamen, waren nicht identisch – für jeden Geschmack war einer dabei, je nach Hintergrund der Verhaltenshistorie.

Vom Standort über den Tag, die Uhrzeit, Pausen, Vorspulen, Zurückspulen, Suchhistorien, Scroll-Verhalten wenn der Abspann eines Filmes beginnt und natürlich die mehreren Millionen Bewertungen am Tag – das Zuschauerverhalten wird festgehalten, um das Programm von morgen zu machen. Wie wichtig die Kundenmeinung für Netflix ist, zeigt etwa die Umstellung des Bewertungssystems: Daumen hoch, oder Daumen runter statt eines Fünf-Sterne-Systems. Nachdem das Netflix dieses System umstellte, stieg die Zahl der Wertungen um 200 Prozent – weil es für die Kunden weniger Aufwand bedeutet.

Damit helfen sie anderen weiter, die Auswahl für das Programm zu treffen. 75 Prozent aller Nutzer folgen den Empfehlungen, die ihnen der Dienst vorschlägt – ein Traum jedes Programmmachers. Mit der Folge, dass kein Kunde das gleiche Programm nahegelegt bekommt wie der andere. Und schon gar nicht frisch getrennte Partner mit dann jeweils eigenen Accounts.

Die schiere Größenordnung der Sammlung aller Verhaltens-Daten seiner Kunden ist so beeindruckend, dass Spezialisten für Big Data Netflix als Paradebeispiel heranziehen, wenn es darum geht, die Kundenwünsche zu ermitteln.

125 Millionen Accounts weltweit gibt es bei Netflix. Jede Nutzung produziert Daten, die gespeichert werden. Anfang 2016 waren es ungefähr 500 Milliarden sogenannter Events – bei damals lediglich 93 Millionen Nutzern. Zu Spitzenzeiten waren das acht Millionen in einer Sekunde. Mehr als ein Petabyte Daten kommt so zusammen – pro Tag.

Mehr als 100 Datenanalysten werten aus, was die monatliche steigende Zahl an Kunden per Nutzungsverhalten über einen Film oder eine Serie mitteilt – ohne, dass sie aktiv Feedback geben. Die Börse liebt diese Geschichte. Um 885 Prozent ist die Aktie in den vergangenen fünf Jahren gestiegen.

Der Erfolg von Netflix setzt auch TV-Sender wie ARD, ZDF, RTL, SAT.1 und Co. unter Druck. Dinah Marte Golch kennt beide Welten. Nach einer Ausbildung als Trainerin in „Gewaltfreier Kommunikation“ und einigen erfolgreichen Jahren als Werbetexterin unter anderem für die Claims von McDonald‘s entschied sie sich, Drehbuchautorin zu werden. Sie schrieb Folgen für die Anwaltsserie „Edel & Starck“, „Soko Leipzig“ oder „Der Bulle von Tölz“ mit, 2010 kam dann der erste „Tatort“. 

Aktuell schreibt Golch regelmäßig mit zwei weiteren Autoren für die zweite Serie, die Netflix in Deutschland in Auftrag gegeben hat: „Dogs of Berlin“.  Schon die erste Netflix-Serie aus der Bundesrepublik, „Dark“ sorgte für Furor, als dritte Eigenproduktion soll „Die Welle“ 2019 folgen.  „Dogs of Berlin“ ist ein Krimi über den Mord an einem deutsch-türkischen Fußball-Nationalspieler, mit Fahri Yardim in der Hauptrolle des Ermittlers Erol Birkan. Sie soll Ende des Jahres bei Netflix abrufbar sein. Alle zehn Teile auf einen Schlag.

„Wir haben viel Freiheit bei den Geschichten“

Das sei ein großer Unterschied zu ihrer Arbeit für die Öffentlich-Rechtlichen, räumt Golch ein. „Wir können viel engmaschiger und intensiver erzählen, da der Zuschauer keine Woche Pause zwischen den Folgen hat“, erzählt Golch. Serien-Produzent Siggi Kamml sagte auf einen Netflix-Event in Rom, dass „Dogs of Berlin“ sich nicht hinter „Dark“ zu verstecken brauche. Die erste in Deutschland produzierte Serie brachte Netflix viel Pressrummel, Lob und gute Zuschauerzahlen. „Es motiviert uns eher, als das es uns Druck macht“, sagte Kamml. Ein börsennotiertes Unternehmen mit Hang zu Zahlen, das nicht mit klaren Vorstellungen an die Ausführenden herantritt?

Nein, übertrieben exakte Vorgaben mache Netflix dem Team rund um Autorin Golch und den Produzenten Kamml und Christian Alvart nicht. „Wir haben viel Freiheit bei den Geschichten“, sagt die gebürtige Münchnerin.

Das verwundert, weiß Netflix doch genau, wie viele Nutzer abgeschaltet haben in einer Folge der Serie „House of Cards“, in der Protagonist Frank Underwood einen verletzten Hund stranguliert. Abschalten ist das letzte, was Netflix wünscht. Dass die extrem erfolgreiche Serie ihres Hauptdarstellers schließlich verlustig wurde, nachdem Vorwürfe sexueller Belästigung gegen Schauspieler Kevin Spacey bekannt wurden, stellt auch die Drehbuchschreiber vor Probleme.

So entschlossen das Unternehmen in der Causa Spacey handelte, so viel Überzeugung steckt in dem Unternehmen, einen einmal eingeschlagenen Weg bei der Auswahl eines Films oder dem Auftrag für eine Serie, bei der Stange zu bleiben. „Da hat Netflix gezeigt, dass es auch Durchhaltevermögen hat“, sagt Golch. Netflix könne es sich leisten, inhaltlichen Mut zu zeigen, da es eine große Bandbreite an qualitativ hochwertigen Programmen habe. 

Dieser Mut basiert auf Fakten. Ob und welchen Kinohit Netflix für seine Abonnenten kauft, wird auf Basis tiefgehender Kenntnisse der Beliebtheit von anderen Filmen getroffen. Die Zahl der nicht erfolgreichen Programmentscheidungen sinkt so deutlich. Das Unternehmen, dessen Angebot laut eigener Aussage für mehr als ein Drittel des Datenverkehrs in Nordamerika verantwortlich ist, sucht zur Zeit allein 40 Datenanalysten in verschiedenen Unternehmenszweigen. Welche Art von Stories funktionieren, was nicht passieren darf – es wird immer detaillierter analysiert, was früher eine Frage von Instinkt und Talent war.

Golch sieht die möglichen Informationen, die ihr die Zuschauerreaktionen geben, nicht als Problem. „Mir geht es beim Schreiben darum, dass es immer Konflikte gibt, Menschen in einem Dilemma stecken und die Punkte herauszuarbeiten, wo ein Charakter eine andere Ausfahrt hätte nehmen können“, sagt sie. Dank des geschlossenen Bogens einer Staffel, deren Folgen alle am gleichen Tag online zur Verfügung stehen, sind solche Inhalte besser umzusetzen.

Die US-Amerikaner lassen sich die Fortschritte der Arbeit zwar präsentieren und geben Hinweise, als Bevormundung eines Algorithmus nimmt Golch das jedoch nicht wahr. Fundamentale Erkenntnisse, die jedoch nicht allein für „Dogs of Berlin“ zutreffen, seien der Serie jedoch ins Lastenheft geschrieben worden. Das begänne bei der Länge einer Folge und der Anzahl der Folgen pro Staffel. Das seien acht. Und obwohl die Länge der Folge zwischen 45 und 65 Minuten liegen könne und eigentlich egal sei, da keine Sendeplätze zu berücksichtigen seien, gäbe es doch quasi das Idealformat: 45 Minuten. Dann wäre eine Staffel in Summe 360 Minuten, also sechs Stunden – etwas, was ein Zuschauer im besten Falle in einem Tag weggucken kann.

Dafür besäßen sie als Autoren Freiheiten, die nicht mehr jede öffentlich-rechtliche Sendeanstalt gewähren würde, wo sehr frühzeitig viele Beteiligte mitsprechen wollten. „Bei Netflix haben sie viel Vertrauen in die Kreativen“, sagt Golch. Was sie aufschreiben, ginge als Übersetzung in die USA und würde dort abgesegnet, gegebenenfalls mit dem Wunsch nach einigen Änderungen. „Das sind zum Beispiel Wünsche, einen Charakter stärker in Erscheinung treten zu lassen“, sagt Golch.  

Die Autorin setzt auf den längeren Atem, den Netflix habe, um eine Serie auch zunächst mal beim Publikum ankommen zu lassen. Den Willen zu mutigeren, kantigeren Serien: „Etwas zu machen, das nicht im Fernsehen zu finden ist, das ist das Programm.“ Das sei der Grund, warum sich so viele gute Serien dort fänden.

Was aber, wenn der Druck steigt, je mehr die Vorgaben präzisiert werden? Golch sieht darin eher eine Chance als ein Risiko für Kreative. Dass Serien nur noch nach Baukastensystem entstünden, fürchtet sie nicht. „Es wird keine Art Gleichschaltung geben“, sagt sie. Vielleicht auch, weil die Kunden viel zu unterschiedlich sind. Selbst die, die viele Jahre trotz unterschiedlichen Filmgeschmacks einen gemeinsamen Account nutzten.

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