Die Probleme erkannte die Deutsche Bahn schon am Vortag. Ein heftiges Unwetter wütete seit gestern Abend über Nordrhein-Westfalen. Und die Deutsche Bahn teilte um Mitternacht von Montag auf Dienstag mit, es gebe "schwere Behinderungen" im Schienenverkehr. Zahlreiche Strecken seien gesperrt, es seien "große Verspätungen" zu erwarten.
Für die Betroffenen des Zug-Chaos zwischen Ruhrgebiet und Köln am Vormittag müssen solche Erkenntnisse der Bahn wie Hohn wirken. Warum stoßen sie am frühen Morgen bei den Bahnhofsanzeigen, den Mitarbeitern und auf dem Smartphone auf eine Serie falscher Informationen, wenn bereits acht Stunden zuvor klar gewesen ist, dass die Deutsche Bahn auf zahlreichen Strecken nicht fahren kann? Erfahrungen aus der Redaktion belegen die Ohnmacht nicht nur des Personals.
Stephanie Heise, Bahnhof Köln-Deutz, 8.24 Uhr:
Nach fast einer Stunde Warterei auf einen Zug nach Düsseldorf: Die Bahn-Mitarbeiterin am Gleis 11 versichert mir, der ICE würde gleich kommen. Das gleiche sagt der Bahn-Navigator auf meinem Smartphone. Leider haben beide unrecht: Der Zug fällt aus, so eine Durchsage zehn Minuten später. Das gleiche Spiel folgt mit mehreren Regionalexpress-Zügen: erst Hoffnung unter den hunderten Menschen am Gleis, dann Enttäuschung. Warum eigentlich weiß die Bahn nicht, wo ihre Züge sind? Und warum gibt es über die zwei Stunden, die ich in Köln-Deutz gewartet habe, nicht eine Durchsage, dass die Strecke nach Düsseldorf komplett wegen der Sturmschäden auf unbestimmte Zeit gesperrt ist?
In Krisensituationen versagt die Informationspolitik der Deutschen Bahn. Gegen die Sturmschäden ist die Deutsche Bahn machtlos. Dass abgebrochene Bäume und abgerissene Oberleitungen Strecken versperren, macht ihr keiner zum Vorwurf. Wohl aber den Mangel an Kompetenz, schnell, transparent und klar zu kommunizieren. An solchen Tagen ist die Bahn überfordert. Warum ist das so?
Grund 1: Die unterschiedlichen Informationssysteme
Noch immer arbeitet die Deutsche Bahn mit unterschiedlichen IT-Systemen. So werden die Details auf den Bahnhofsanzeigen über einen anderen Weg gefüttert wie der DB-Navigator auf dem Smartphone. Die Mitarbeiter müssen teilweise immer noch umständlich in den Computer am Bahnsteig schauen statt mobil über Smartphones aktuelle Informationen zu bekommen. Zwar greifen alle Systeme mehr oder weniger auf das ReisendenInformationsSystem (RIS) der Bahn zu, das zentral gesteuerte Informationen liefert, doch aufeinander abgestimmt sind die Systeme nicht.
So passiert es, dass der DB Navigator oft die zuverlässigste Informationsquelle ist. Bahnhofsanzeigen leiden darunter, dass sie die Informationen aus dem RIS oft nicht ganz so schnell verarbeiten wie der DB Navigator. Manchmal ist aber auch die Bahnhofsanzeige die bessere Informationsquelle (siehe unten). Verlässlich ist kein System. Immerhin: Die Deutsche Bahn hat die IT-Probleme grundsätzlich erkannt und angekündigt, einen Millionenbetrag zu investieren, um die IT zu vereinheitlichen. Überlegt wird offenbar auch, das gesamte System auf neue Beine zu stellen. Doch das würde dauern.
Die schwierige Koordination
Roland Tichy, 7:40 Uhr, Frankfurt Hauptbahnhof:
Der DB-Navigator ist um 7:40 beruhigend grün: ICE 822 Frankfurt – Düsseldorf um 8:10 pünktlich. Aber schon um 7:55 meldet die Bahnhofsanzeige, dass dieser Zug diesmal nur von Frankfurt Hauptbahnhof bis Frankfurt Flughafen fährt – eine ironische Feinheit: Das geht mit der S-Bahn schneller. Der Service-Point-Mitarbeiter empfiehlt als Alternative den Zug nach Köln um 8:19 mit Anschluss nach Düsseldorf „direkt am Bahnsteig gegenüber“.
Der 8:19er fährt mit 30 Minuten Verspätung tatsächlich los, ohne jede weitere Vorwarnung. Denn leider nur bis in Deutschlands größten Sackbahnhof: aussteigen in Köln. Keine Durchsagen. Es spricht sich herum: Ende einer Dienstfahrt, die Strecke nach Düsseldorf ist gesperrt. Auf dem Nebengleis rollt der ICE mit geplanter Weiterfahrt Richtung Dortmund ein. Ebenfalls Ende. Reisende stehen irritiert herum.
Der gemeine Reisende stellt sich Fragen: Warum wurde in Frankfurt nicht darüber informiert, dass in Köln für den gesamten Tag der Zugverkehr ruht? Wieso werden Reisende in die Falle Köln gelockt. Frühzeitige Information kann kein Wetter ungeschehen machen – aber schweigende Lautsprecher und offenkundig ahnungsloses Auskunftspersonal verärgern.
Richtig wäre gewesen, schon ab Frankfurt, oder auch in Mainz, Wiesbaden, Aachen, kurz all jenen Bahnhöfen mit Zügen Richtung Köln und dann weiter zu informieren, dass zu Hause bleiben oder alternative Routen die bessere Wahl wären. Offensichtlich klappt die Informationsweitergabe der Bahn nicht.
Grund 2: Die schwierige Koordination
Wer glaubt, der Zugverkehr in Deutschland werde zentral gesteuert, täuscht sich. Eine Netzleitzentrale in Frankfurt koordiniert zwar den gesamten Fernverkehr, muss sich aber mit sieben Betriebszentralen abstimmen. Die Betriebszentralen sind für den Regionalverkehr zuständig und disponieren die Züge. Fährt ein Zug über eine virtuelle Grenze, wird er an die benachbarte Leitstelle übergeben.
Dass allein ist Bahnalltag in Europa und bereitet kaum Probleme. Doch problematisch wird es, wenn eine Großstörung wie bei einem Unwetter das Gesamtsystem bedroht. Das ist der Fall, wenn Züge den Fahrplan derartig durcheinander bringen, dass das System zu kollabieren droht. Die Entscheider in den Leitzentralen müssen überlegen, ob sie die Züge in dem durcheinander geratenen Fahrplan weiterfahren lassen oder den Betrieb zumindest teilweise anhalten, um zu verhindern, dass etwa mehrere Züge gleichzeitig ein Gleis blockieren. Solche Entscheidungen werden kurzfristig getroffen – ohne Rücksicht auf vorherige Entscheidungen.
Hinzu kommt, dass die Mitarbeiter in den Leitstellen auch den Fahrplan am Folgetag im Blick haben müssen. Die Züge fahren in Umläufen. Das kann dazu führen, dass es manchmal sinnvoller ist, einen Zug anzuhalten und in die Gegenrichtung zu schicken statt weiterzufahren. Auch die Lufthansa ließ einige Flieger während des Piloten-Streiks am Boden, obwohl sie hätten fliegen können. Doch so konnte der Betrieb möglichst schnell wieder aufgenommen werden.
Die statische Zugmessung
Übel aufstoßen dürfte den Reisenden, dass manchmal allein der Personalmangel Ursache für einen unvorhersehbaren Stopp ist. Denn die Netzleitzentrale in Frankfurt stimmt sich nicht nur mit ihren sieben Regionaltöchtern ab, sondern auch mit dem Personenverkehr. Es kann passieren, dass ein ICE nicht weiter fahren darf, weil der Lokführer seine gesetzlich erlaubten Arbeitsstunden abgeleistet hat. Dann muss der Zug auf einen Ersatz-Lokführer warten. In Zeiten von Unwetter und Fahrplan-Chaos bringen personelle Engpässe zusätzliche Unwucht in den Takt.
Rüdiger Kiani-Kreß, Köln Hauptbahnhof, 8:15 Uhr:
Am Kölner Hauptbahnhof war bereits die große Anzeige in der Haupthalle am Dom der Flut an Verspätungen nicht mehr gewachsen. So zeigte die Tafel etwa um 8:15 noch die Züge, die von fünf Uhr früh bis kurz nach sieben hätten fahren sollen, aber ausgefallen waren. Doch keiner der aktuellen Züge war gelistet.
Die genauen Beobachter unter den sicher mehreren hundert Wartenden, die ihren Blick auf die veraltete Tafel hefteten, entdeckten überrascht den ICE 543 um 6:26. Der sollte nur 120 Minuten Verspätung haben. Doch gegen 8:30 verschwand der komplett von der Anzeige – ohne gefahren zu sein.
Wer erfahren wollte, wie es wirklich um die aktuellen Verbindungen stand, musste sich entweder in die bis zu rund 50 Meter lange Schlange vor den Informationspunkten (präzise: von Gleis 4 bis fast zu McDonald’s) einreihen – oder im Internet nachsehen.
Doch auch auf die App war nicht ganz Verlass. So zeigte die Liste der Fahrten zwischen den Hauptbahnhöfen von Köln und Düsseldorf - neben einer Reihe abgesagter Verbindungen (mit einem roten X vor der Abfahrtszeit) - auch eine Handvoll pünktlicher oder fast pünktlicher Züge. Aber wer auf den App-Rat auf Gleis 1 zum RE um 9.31 Uhr ab Köln Hbf mit +3 Minuten ging, blieb ebenso stehen wie zuvor beim ICE 847 (9:28 Uhr Gleis 5) und jeder Menge anderer.
Grund 3: Die statische Zugmessung
Navigationssysteme im Auto oder auf dem Smartphone funktionieren zuverlässig. Warum eigentlich nicht bei der Bahn? Die Begründung ist einfach und verstörend: Die Bahn arbeitet nicht mit GPS. Stattdessen misst sie Pünktlichkeit und Standort ihrer Züge anhand von Messpunkten, die die Züge auf der Strecke überfahren. Sie sind irgendwo an den Gleisen angebracht – und auf jeden Fall vor und nach den Bahnhöfen. Das System klingt statisch und ist es auch.
Aus diesem Grund ist die Information auf dem DB Navigator nicht immer korrekt. In Hamm etwa kommt es öfters vor, dass ein ICE mit wenigen Minuten Verspätung eintrifft. Laut System ist er dann noch pünktlich. Und er würde in der nächstgelegenen Station Bielefeld auch noch als pünktlich angezeigt, selbst dann, wenn er aus technischen oder Unwetter-Gründen nicht abfährt. „Da der Zug keine Zugmeldeanlage durchfahren hat, kann die automatische Aktualisierung nicht greifen“, heißt es beim Twitter-Team der Deutschen Bahn auf Anfrage. Mit anderen Worten: Ein Zug, der niemals losfährt, hat niemals Verspätung.
Dies dürfte eine Erklärung sein, warum viele Züge auf dem DB Navigator pünktlich erscheinen, obwohl sie in Wahrheit viele Minuten zu spät sind – und möglicherweise noch irgendwo auf dem vorherigen Bahnhof stehen. Hinzu kommt, dass heute sowieso alles anders ist. Auf Anfrage antwortet das Twitter-Team der Deutschen Bahn: „Der DB Navigator hakt heute teilweise. Bitte die Ansagen/Anzeigen am Gleis beachten.“
Organisierte Verwirrung
Die Informationspolitik der Deutschen Bahn bleibt also bis auf Weiteres die Achillesferse. Und betroffen sind nicht nur die Züge in dem vom Unwetter betroffenen Gebiet. Die Verspätungen strahlen ab auf weit entfernte Regionen - die mangelnde Informationspolitik leider auch:
Lothar Kuhn, 6.46 Uhr am Hamburger Hauptbahnhof:
Der Eurocity 9 nach Zürich mit Halt in Düsseldorf läuft ein. Wir Reisenden entern den Zug, suchen unsere Plätze. Dann kommt die Durchsage im Zug: „Heute fährt der EC nicht durchs Ruhrgebiet, sondern über Hannover und Frankfurt nach Zürich.“ Hektisch stürzen wir aus dem Zug. Auf dem Gleis keine Ansage, keine Anzeige. Also hoch zum Servicepoint. Auf der Südbrücke des Hauptbahnhofs versperrt die Schlange der Wartenden fast komplett den Weg für die anderen Reisenden. Dann läuft der ICE nach Hannover ein, noch vier Wartende vor mir. Soll ich den Zug nehmen und in Hannover umsteigen Richtung NRW? Ich dränge mich vor, frage die Mitarbeiterin am Service-Point. Die zuckt mit den Schultern: „Probieren Sie’s.“
Nun, dann hätte ich gleich im EC bleiben können. Sei’s drum. Der ICE erreicht fast pünktlich Hannover. Dort ein überraschender Gleiswechsel, über den uns der Schaffner nicht vorab informiert hat. Aber immerhin der ICE Richtung Dortmund fährt. Der schafft es nur bis Hamm. Wieder stürmen die Reisenden den Servicepoint. Immerhin hat der DB Navigator verraten, wo der Regional-Express gen Dortmund fährt. Er kommt, ist brechend voll, für Gepäck kein Platz. In Dortmund endet dann auch dieser Zug, dort tobt die Hölle. Taxis sind nicht zu bekommen. Der Bahnsteig, von dem der einzige Regional-Express gen Süden fahren soll, ist schwarz von Menschen. Mit 25 Minuten Verspätung soll es weitergehen. Der Zug kommt, ein Waggon ist komplett gesperrt. Um so voller sind die übrigen. Und der Zug steht. Und er steht. Keine Durchsage. Mit einer Stunde Verspätung fährt er los. Über die Zierden des Ruhrgebiets wie Witten und Hagen weiter über Wuppertal-Oberbarmen. Bis schließlich nach Düsseldorf.
Fazit: viereinhalb Stunden Verspätung, Züge im Internet als pünktlich deklariert, die nie fuhren, auf den Bahnsteigen Fehlinformationen, in den Zügen Ratlosigkeit. Die Bahn-Mitarbeiter bemühen sich, wissen in Wahrheit aber auch nicht mehr. Organisierte Verwirrung.