
Der längste Streik in der Geschichte der Deutschen Bahn zwingt Millionen Pendler und Reisende zum Umsteigen. Mitglieder der Lokführergewerkschaft GDL weiteten am Dienstag ihren Ausstand auf Fernzüge, Regionalbahnen und S-Bahnen in ganz Deutschland aus. Sie wollen ihre Arbeit erst am Sonntag wieder aufnehmen. Der fast einwöchige Arbeitskampf, der bereits am Montagnachmittag im Güterverkehr begann, ist der achte im derzeitigen Tarifkonflikt. Ökonomen befürchten Millionenschäden für die Wirtschaft. Aus der Politik werden nun Rufe nach einer Zwangsschlichtung lauter.
Viele nahmen das Auto und gerieten vor allem in den Ballungsgebieten in sehr dichten Verkehr - weitaus dichter als an normalen Arbeitstagen. „Wer keine Alternative zum Auto hat, steht fast zwangsläufig im Stau“, sagte eine Sprecherin des Automobilclubs ADAC.
Was die GDL erreichen will
Wie immer geht es zwischen Arbeitgeber und den Gewerkschaften um Einkommen, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen. Das Besondere an diesem Tarifkonflikt ist jedoch, dass zusätzlich die GDL (34 000 Mitglieder) mit der viel größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG (210 000 Mitglieder) um die Vertretungsmacht bei einem Teil der Belegschaft konkurriert. Die Bahn wiederum will Tarifkonkurrenz vermeiden. Für eine Berufsgruppe soll ihrer Meinung nach nur ein Tarifvertrag gelten.
Die GDL will die Verhandlungsmacht auch für rund 8800 Zubegleiter, 2500 Gastronomen in den Speisewagen, 3100 Lokrangierführer sowie 2700 Instruktoren, Trainer und Zugdisponenten. Das macht zusammen 17 100 Mitarbeiter. Mit den rund 20 000 Lokführern bildet die GDL daraus die Gruppe „Zugpersonal“ mit 37 000 Mitarbeitern. In dieser Gruppe habe sie die Mehrheit der Mitglieder. Die EVG hält von der GDL vorgenommene Zusammenführung für willkürlich und bezweifelt deren Zahlenangaben.
Das ist der heikle Punkt, weil die Gewerkschaften aus dem Organisationsgrad ihr Verhandlungsmandat für die jeweiligen Berufsgruppen ableiten. Wer stärker ist, soll in Tarifverhandlungen das Sagen haben. Die Frage ist jedoch, welche Organisationseinheit man dabei betrachtet: Einen Betrieb, ein Unternehmen im Konzern, eine Berufsgruppe? Je nach dem kann die Mehrheit mal bei der einen, mal bei der anderen Gewerkschaft liegen.
Bei den Lokführern ist die Sache klar: 20.000 sind bei der Bahn beschäftigt. Die GDL reklamiert 78 Prozent von ihnen als ihre Mitglieder, das wären etwa 15.500. Die EVG gibt ihre Mitgliederzahl unter den Lokführern mit 5000 an, davon seien 2000 Beamte. Das geht nicht ganz auf, selbst wenn alle Lokführer gewerkschaftlich organisiert wären. Aber: Das Kräfteverhältnis ist eindeutig, drei zu eins für die GDL. Schwieriger und umstritten ist es bei den übrigen rund 17.000 Mitarbeitern, die nach GDL-Definition zum Zugpersonal zählen. Die EVG sagt, 65 Prozent der Zugbegleiter und 75 Prozent der Lokrangierführer seien bei ihr organisiert. Das wären zusammen allein bei diesen beiden Berufsgruppen 9860 Beschäftigte. Die GDL macht eine andere Rechnung auf: 37.000 Beschäftigte (inklusive Lokführer) gehörten zum Zugpersonal. Davon seien 19.000 GDL-Mitglieder, das sei eine Mehrheit von 51 Prozent.
Für die GDL ist das sehr bedeutsam. Denn ein solches Gesetz könnte ihre Handlungsmöglichkeit einschränken. Möglicherweise verlöre sie in bestimmten Ausgangslagen das Streikrecht. Damit wäre die GDL wie andere Berufsgewerkschaften in ihrer Existenz bedroht. Die GDL hat bereits angekündigt, dass sie ein solches Gesetz vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen würde.
Streiks in rascher Folge, Lähmung des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft sollen erschwert werden. Die Diskussion hatte durch ein Urteil des Bundesarbeitsgerichtes schon vor vier Jahren an Fahrt gewonnen. Die Richter stärkten die Tarifvertrags-Vielfalt und die Konkurrenz unter großen und kleinen Gewerkschaften. Der Grundsatz „Ein Betrieb - ein Tarifvertrag“ wurde damals hinfällig.
Der Zugverkehr nach Ersatzfahrplänen laufe stabil, teilte die Bahn in Berlin mit. Im Fernverkehr sollten 245 statt der sonst üblichen 804 Züge eingesetzt werden. Im Regionalverkehr seien je nach Gebiet zwischen 15 und 60 Prozent der Züge unterwegs.
Mit besonderen Problemen hatte das Unternehmen im Osten der Republik gerechnet, wo es kaum beamtete Lokführer gibt, die nicht streiken dürfen. Später sagte ein Bahnsprecher, es könnten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen etliche Züge mehr fahren als geplant, weil mehr Lokführer zur Arbeit erschienen seien als erwartet. Die GDL äußerte sich zunächst nicht zur Streikbeteiligung.
Auch die S-Bahnen waren stark beeinträchtigt. In Hamburg fuhren sie auf den Stammlinien im 20-Minuten-Takt. In Berlin wurde etwa die Hälfte der Linien ebenfalls im Abstand von 20 Minuten bedient. Im Rhein-Main-Gebiet fuhren die meisten Linien im Stunden-Takt oder fielen gleich ganz aus.
Grafik: Der Bahnstreik in Zahlen
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Der Streik wird nach Einschätzung von Ökonomen auch die Wirtschaft vorübergehend bremsen. Die Kosten in dem aktuellen Bahnstreik könnten sich auf bis zu 750 Millionen Euro summieren, wie Konjunkturexperte Stefan Kipar von der BayernLB erklärte. Noch gefährlicher schätzen Ökonomen die langfristigen Folgen ein - denn der Ruf des Standorts Deutschland könnte Schaden nehmen.
Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) befürchtet nach drei bis vier Tagen Streik Produktionsunterbrechungen, weil die Logistikketten unterbrochen sind. Besonders betroffen seien Branchen, deren Güter nicht so einfach auf Lastwagen oder Schiffe umgeladen werden können - also die Stahlindustrie, aber auch der Fahrzeugbau und die chemische Industrie.

Mehrere Unionspolitiker forderten eine Zwangsschlichtung. Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Michael Fuchs (CDU), sprach sich für die Einführung eines gesetzlichen Schlichtungsverfahrens im Bahn- und Luftverkehr aus. „Bevor gestreikt wird, sollen die Parteien miteinander reden - wie erwachsene Menschen“, sagte er der „Bild“-Zeitung (Dienstag).
Der Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak, verlangte „klarere Regeln für Arbeitskämpfe“. „Ein Mediationsverfahren sollte immer Vorbedingung von Streiks sein, ergänzt um eine angemessene Ankündigungspflicht von vier Tagen“, schlug Ziemiak vor.
Der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky hatte am Montagabend erneut die von der Bahn vorgeschlagene Schlichtung abgelehnt. Es gehe um grundgesetzlich geschützte Rechte der GDL-Mitglieder, sagte er im ZDF. „Wir lassen nicht über Grundrechte schlichten.“
Der Fahrgastverband Pro Bahn regte statt einer Schlichtung an, einen Moderator einzuschalten. Bei einer Moderation gehe es erst mal darum, die Fähigkeit herzustellen, miteinander zu sprechen, sagte der Ehrenvorsitzende von Pro Bahn, Karl-Peter Naumann, der „Rheinischen Post“ (Dienstag). „Als Moderator könnten wir uns den früheren Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Bischof Wolfgang Huber, vorstellen.“ Auch zu diesem Vorschlag äußerte sich die GDL zunächst nicht.
Die Deutsche Bahn will auf die streikenden Lokführer zugehen. Bahnchef Rüdiger Grube kündigte in der „Bild“-Zeitung (Mittwoch) an, er wolle am Mittwoch gemeinsam mit Bahn-Personalvorstand Ulrich Weber „einen Vorschlag zur Befriedung der Lage“ unterbreiten. Dazu planen die beiden eine Pressekonferenz, wie es in Unternehmenskreisen hieß. Ort und Zeit wurden zunächst nicht genannt.
„Der Tarifkonflikt darf nicht auf dem Rücken unserer Kunden und Mitarbeiter ausgetragen werden“, sagte Grube dem Blatt. Der Personenverkehrsvorstand Ulrich Homburg wollte sich am Dienstag bei einem Statement in Berlin nicht dazu äußern, ob es aktuell Gespräche mit der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer gebe. Ihre Mitglieder wollen noch bis Sonntag streiken.