Bike-Sharing Der Leihrad-Boom erfasst die Großstädte

Wild an einer Hauswand abgestellte Leihräder Quelle: imago images

Immer mehr stationslose Leihfahrräder vor allem aus China warten in den Straßen auf Nutzer. Wie verkehrssicher und nachhaltig ist das millionenschwere und umstrittene Sharing-Modell?

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Die Idee ist faszinierend: Man steigt aus der S-Bahn und schwingt sich für ein paar Cent schnell aufs Leihrad, um auf den letzten Metern bequem ins Ziel zu rollen. Das Rad kann man an jedem öffentlich zugänglichen Ort abstellen und muss es nicht mal zum Ausgangspunkt zurückbringen. Etwas Ähnliches bieten die Deutsche Bahn oder nextbike aus Leipzig schon länger an – allerdings hauptsächlich mit stationsgebundenen Leihrädern.

Neu sind dagegen die knallbunten Leihräder vorwiegend chinesischer Anbieter, die den Traum vom spontanen Radeln auf der Kurzstrecke wahr machen wollen. oBike, Mobike, BYKE oder Limebike nennen sich die Neuen ganz im demonstrativ verspielten Start-up-Jargon. Doch handelt es sich um keine harmlose Spielerei, sondern um ein knallhartes und international expandierendes Geschäftsmodell. Folgende Zahlen verschaffen einen Eindruck von den Dimensionen: Für den Marktführer Mobike rollen rund acht Millionen Räder in 200 Städten rund um die Welt, seit November 2017 auch in Berlin. Der Konkurrent ofo hat laut chinesischen Medien beim Shanghaier Radhersteller Phoenix für die nächsten Jahre fünf Millionen neue Räder bestellt, von denen rund eine Million für die internationale Expansion eingesetzt werden sollen.

Rund 15.000 China-Räder stehen bereits in Großstädten wie Berlin, München oder Frankfurt. Das sind so viele Räder, wie die Deutsche Bahn hier in Betrieb hat. Und weitere Standorte sollen folgen. Auch ofo will im Laufe des Jahres 2018 nach Deutschland kommen – die Buchstaben des Markennamens sollen einen Radler von der Seite symbolisieren.

So (un)sicher sind Leihräder

Die Neuen stammen nicht aus der Fahrradbranche sondern aus der Digitalwirtschaft. Sie dürften die Fähigkeit besitzen, die Daten ihrer Nutzer und deren Bewegungsprofile gewinnbringend einzusetzen, beteuern allerdings, dass sie diese Daten schützen wollen. Manchen Städten wurden beim Markteintritt allerdings Informationen über viel gefahrene Strecken versprochen, etwa um die Planung neuer Radwege zu unterstützen.

Der Traum von der spontanen und umweltfreundlichen urbanen Mobilität kann jedoch zum Albtraum werden, wenn wild abgestellte oder defekte Räder Bürgersteige und Parkplätze versperren oder den öffentlichen Raum zumüllen. Chinas Metropolen, in denen der Leihradboom seine Wurzeln hat, haben Negativerfahrungen dieser Art schon hinter sich. Ähnliches erlebten auch München, Wien oder Zürich.

Stadtverwalter reagieren mit Auflagen

Köln hat daher schon mal vorsichtshalber strenge Auflagen erlassen, an die sich neue Anbieter halten müssen, wenn sie ihre Räder in der Domstadt rollen lassen wollen. Zudem stellt sich bei den stationslosen und ohne Aufsicht parkenden Rädern die Frage, wie verkehrssicher sie sind, wenn sie Wind, Wetter und Vandalen ausgesetzt sind. Deshalb haben wir uns für die Recherche auch testweise auf ein paar Leihräder geschwungen und zwei bei einem Fahrradexperten des Verkehrsclubs ADAC vorgeführt.

Wenn Sie in einer neuen Stadt starten, stellen die Unternehmen ihre Räder meist in Pulks in der Nähe von Bahnhöfen oder Sehenswürdigkeiten ab, an denen viele Leute vorbeikommen. Durch die Nutzung sollen die Räder sich dann in die Breite verteilen, zudem sollen lokale Dienstleister bei der Verteilung helfen.

Die Geschäftsmodelle der Anbieter sind sehr ähnlich und funktionieren dank digitaler Technik: Wer radeln will, muss die Smartphone-App des Radleihdienstes seiner Wahl installieren. Das Programm zeigt dann auf dem Bildschirm, wo in der Stadt gerade das nächste freie Rad steht – sofern das satellitengestützte Positionssystem auf dem Handy aktiv ist.
Hat man ein passendes Rad aufgestöbert, scannt man per Smartphone den am Lenker oder Schutzblech angebrachten QR-Code, das Schloss schnappt automatisch auf, die Zeit läuft. Am Ziel angekommen, stellt man das Rad an einem öffentlich zugänglichen Ort ab, etwa am Rand eines Bürgersteigs. Nach dem Verriegeln kann direkt wieder ein neuer Nutzer aufsteigen. Gezahlt wird mobil mit Kreditkarte, PayPal oder vereinzelt sogar in digitaler Währung. Manche Anbieter verlangen auch Kaution.

Streifzüge durch die Innenstadt


Der Anbieter BYKE, zu erkennen an den auffälligen türkisfarbenen Rahmen und gelben Felgen seiner Räder, ist kürzlich in Frankfurt gestartet. BYKE bezeichnet sich als Berliner Unternehmen, doch gibt es Verbindungen nach China, dem Mutterland des Leihradbooms. Einer der drei BYKE-Geschäftsführer und Mitgründer ist der Amerikaner Eric Wang. Laut einem Profil auf dem internationalen Karrierenetzwerk LinkedIn leitet Wang neben seinen BYKE-Aktivitäten auch das US-Geschäft des Pekinger Internetunternehmens Zenjoy, das Spiele für Smartphones entwickelt.

Auf den grün-gelb-bunten BYKE-Rädern prangt zudem das goldglänzende Wappen der chinesischen Fahrradmarke Phoenix. Billige Zweiradware Made in Asia? Das Gegenteil ist der Fall. In der einstigen Radel-Nation China ist die 1897 gegründete Marke Phoenix eine Legende. Bevor das Auto das wackere Volk der Radfahrer im wahrsten Sinn des Wortes von Chinas Straßen drängte – und das ist erst rund zehn Jahre her – gehörte ein Rad aus den Phoenix-Fabriken zu den wenigen, bescheidenen Statussymbolen, die dem chinesischen Normalbürger überhaupt zur Verfügung standen. Wer heiraten wollte, musste ein Phoenix haben.

Kam Staatsbesuch aus dem Westen, machten die kommunistischen Führer ihren Gästen gern ein nagelneues Fahrrad aus den Fabriken der Vorzeigemarke zum Geschenk. Vom digitalen Geschäftsmodell mit den spontan per Smartphone leihbaren Rädern ahnte man damals freilich noch nichts. Und die in Deutschland aufgestellten Phoenix-Räder sind moderner als die Exemplare von früher – schon allein wegen des Handy-Positionssystems und den solarbetriebenen Automatikschlössern.

Schäden am Rad der Hotline melden

Auch der ADAC-Experte Alexandro Melus ist angetan von dem Phoenix-Rad, das wir ihm in einem Frankfurter Gewerbegebiet zu einem kleinen Sicherheitscheck vorbeibringen. Licht, Bremse und Reifen sind ok, sogar der vorgeschriebene Reflektor hinten ist angebracht – selbst nach strenger deutscher Straßenverkehrsordnung also keine Mängel. Melus empfiehlt Radlern auf die sogenannten drei B’s zu achten, bevor sie sich auf ein Rad schwingen: Bremsen, Bereifung, Beleuchtung. Bei den stets unter freiem Himmel abgestellten Leihrädern ist ein solcher Schnellcheck besonders wichtig.

Nach diesen Kriterien deutlich schlechter fällt das Urteil des Experten für unser mitgebrachtes oBike-Rad aus, weil die Bremse am Hinterrad nicht greift, dafür die Vorderradbremse umso kräftiger. Hier muss man aufpassen, wenn man nicht über den Lenker fliegen will. Warum die Rückbremse klemmt, lässt sich von außen nicht erkennen. Verkehrssicher ist dieses oBike jedenfalls nicht. Weiteres Manko: Bei dem Rad fehlen die Schutzbleche, auch vermisst der ADAC-Experte hinten einen roten Reflektor. Strenggenommen dürfte man so gar nicht auf die Straße, auch wenn die Polizei in Großstädten andere Prioritäten haben dürfte als unsichere Fahrräder.

Haben wir mit dem Rad einfach Pech gehabt? oBike bedauert die Defekte und erklärt, dass lokale Dienstleistungspartner sich um die Wartung und gleichmäßige Verteilung der Räder über das Stadtgebiet kümmern würden. Dabei sei man auch auf die Hilfe der Nutzer angewiesen, die Schäden über eine Hotline melden könnten, was laut oBike sehr gut klappt. Zudem prüften die lokalen Partner bei der Umverteilung der Räder diese auf Schäden. Es komme relativ selten vor, dass ein defektes Rad nicht aufgegriffen werde, etwa weil die Batterie des solarbetriebenen Schlosses defekt sei, sodass dieses nicht geortet werden könne. Unser testweise herausgegriffenes oBike-Rad mag einige Mängel gehabt haben – das Schloss jedoch funktionierte.

Bei Streifzügen durch die Frankfurter Innenstadt sind wir im Januar und Februar immer wieder auf kaputte Leihräder unterschiedlicher Anbieter gestoßen: Abgerissene Schutzbleche, zerrissene Sattelpolster oder sogar aus der Felge gerutschte Speichen – und das bei Rädern, die erst wenige Monate im Einsatz sind.

Bei solchen schon auf den ersten Blick erkennbaren Mängeln steigt man gar nicht erst auf und lässt die Räder gleich links liegen. Problematischer für die Verkehrssicherheit sind Schäden, die man erst unterwegs feststellt, etwa eine defekte Bremse. Wer sich aufs Leihrad schwingt, sollte den Bock also unbedingt prüfen, am besten mit den drei B’s unseres ADAC-Experten: Bremsen, Beleuchtung, Bereifung. Ganz so spontan wie erhofft ist das Leihradeln so allerdings nicht.

Investoren stecken Millionen in den digitalen Radverleih


Verkehrsplaner träumen von autofreien Innenstädten, trotzdem befürchten Kommunen, dass sie im Zweifel verwaiste Leihräder von ihren Straßen lesen und entsorgen lassen müssen. Der Wiener Kurier brachte Anfang Februar einen Artikel mit einem großen Foto von in den Wienfluss geworfenen Leihrädern, hier der Marke oBike. Wahrscheinlich handelt es sich um das Werk frustrierter Passanten, denen die von ihren letzten Nutzern wild auf dem Bürgersteig abgestellten Räder im Weg waren. Auch München erlebte ein Trauma mit oBike-Rädern.

Erstaunlich, dass ausgerechnet oBike so stark auffällt, schließlich startete das von Chinesen gegründete Unternehmen erfolgreich in Singapur, dem erzautoritären Stadtstaat britisch-chinesischer Prägung mit seinen drakonischen Strafen für jede tatsächliche oder nur vermeintliche Störung der öffentlichen Ordnung. Schon für weggeworfene Kaugummis hagelt es in Singapur empfindliche Geldbußen, zum Erstaunen mancher Touristen. Aber vielleicht war das Unternehmen gerade wegen der eingeschüchterten singapurischen Kundschaft nicht gewappnet für die teils chaotischen Zustände in den liberalen westlichen Großstädten und die leider fehlende Disziplin vieler europäischer Nutzer.

Fünf Mini-E-Bikes für die Stadt
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Natürlich kennen auch andere Leihradanbieter die Probleme. Schäden an den Rädern und rücksichtslose Falschparkerei will der in Berlin vertretene Radverleiher Mobike mit Strafpunkten für schlampige Radler eindämmen. Zudem setzt Mobike offenbar auf Diplomatie, um verschreckten Kommunen die Angst zu nehmen. „Wir wollen erst mit den Städten reden, damit wir willkommen sind“, sagt Jimmy Cliff, der bei Mobike für den deutschen Markt zuständig ist.

Der Manager verrät nicht genau, wie viele Räder er in Berlin im Einsatz hat. Es dürfte sich um rund 3000 Stück handeln, denn Mobike bezeichnet sich als größten Anbieter in Berlin, wo der deutsche Konkurrent Nextbike bisher 2000 Räder stationiert hat – Tendenz steigend. Denn Nextbike musste dem Senat zusichern, bis Ende 2018 den Berlinern 5000 Räder zur Verfügung zu stellen, um den Zuschlag zu bekommen. Für die stationslosen Konkurrenten fehlen solche Auflagen.

Spannende Lebensläufe

Gegründet wurde Mobike von der ehemaligen chinesischen Journalistin HU Weiwei, die sich als Herz des Unternehmens bezeichnet und mit ihrer charismatischen Persönlichkeit dem umstrittenen Leihradkonzept ein freundliches Gesicht verleiht. Geleitet wird das Unternehmen von CEO und Mitgründer WANG Xiaofeng. Laut Handelsblatt hat Mobike allein im vergangenen Jahr eine Milliarde Dollar von Investoren eingesammelt, etwa vom chinesischen Internetkonzern Tencent, einem der ehemaligen Arbeitgeber von Gründerin HU.

Einen ähnlich spannenden Lebenslauf kann oBike-Gründer SHI Yi vorweisen. Der 1989 in Shanghai geborene Jungunternehmer ist in Deutschland zur Schule gegangen und hat an der Frankfurter Goethe-Universität Informatik und Wirtschaftswissenschaften studiert. Seinen beruflichen und wirtschaftlichen Durchbruch hat er trotz seines zarten Alters längst geschafft. Mit seiner 2009 gegründeten High-Tech-Firma Avazu hält er Beteiligungen an aufstrebenden Digitalunternehmen. Eines seiner Babys hat er laut Forbes 2015 für 300 Millionen Dollar verkauft.

Unternehmen, die so viel Geld in der Tasche haben wie oBike oder Mobike, können wahrscheinlich ohne Rücksicht auf die Kosten expandieren. Was macht es da schon, wenn ein paar Räder in Donau, Isar, Main oder Spree landen? Nicht einmal die 48,5 Prozent Anti-Dumping-Zoll für in China hergestellte Fahrräder schrecken die Markteroberer aus Fernost ab. Der hohe Zollsatz lasse sich durch die niedrigen Produktionskosten der Räder kompensieren, heißt es dazu bei oBike.

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