Bilanzskandal Wirecard-Vorstand: Verschwundene Milliarden existieren mit „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ nicht

Die 1,9 Milliarden Euro, die Wirecard in der Bilanz fehlen, liegen offenbar nicht auf den Philippinen. Quelle: REUTERS

Der Wirecard-Thriller spitzt sich weiter zu: Wirecards Vorstand verkündet, die 1,9 Milliarden Euro gibt es wahrscheinlich nicht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Die Wirecard-Aktien sind erneut auf steiler Talfahrt.

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Mit „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ existieren die in der Wirecard-Bilanz fehlenden 1,9 Milliarden nicht. Mit dieser Aussage erreicht der Wirecard-Skandal einen neuen Höhepunkt. In der Nacht zu Montag hat sich der Vorstand des Finanzdienstleisters so per Stellungnahme zu Wort gemeldet. Infolge der jüngsten Überprüfungen ziehe Wirecard daher die vorläufigen Ergebnisse und Prognosen der Geschäftsjahre 2019 und 2020 zurück.

Die Gesellschaft ging bislang davon aus, dass die zugunsten von Wirecard ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro im Zusammenhang mit dem sogenannten Drittpartnergeschäft („Third Party Acquiring“) zugunsten der Gesellschaft bestünden und habe sie entsprechend in der Rechnungslegung als Aktivposten ausgewiesen. Wirecard ziehe daher die Einschätzung des vorläufigen Ergebnisses des Geschäftsjahres 2019, des vorläufigen Ergebnisses des ersten Quartals 2020, der EBITDA-Prognose für 2020 und der Vision 2025 zu Transaktionsvolumen, Umsatz und EBITDA zurück. „Mögliche Auswirkungen auf die Jahresabschlüsse vorangegangener Geschäftsjahre können nicht ausgeschlossen werden“, heißt es in der Mitteilung weiter. Es werde untersucht, ob, in welcher Art und Weise und in welchem Umfang das Drittpartnergeschäft tatsächlich zugunsten der Gesellschaft geführt wurde.

Der Stellungnahme des Unternehmens war unter anderem eine massive Herabstufung des Wirecard-Ratings um gleich sechs Noten auf Ramschniveau vorausgegangen.

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Am Montagmorgen reagierte die Börse prompt auf die Stellungnahme aus Aschheim: Die Wirecard- Aktien wurden noch tiefer in den Abwärtsstrudel gerissen und büßten im frühen Handel weitere knapp 38 Prozent auf 15,10 Euro ein, nachdem sie bereits am Donnerstag und Freitag um bis zu 82 Prozent eingebrochen waren. Damit schrumpft der Börsenwert auf knapp 1,9 Milliarden Euro, womit sich seit Mittwoch 11 Milliarden in Luft aufgelöst haben.

Die Suche nach den verschwundenen Milliarden konzentrierte sich zuletzt auf die Philippinen. Von eben dort kamen am Wochenende allerdings schlechte Nachrichten: Die 1,9 Milliarden Euro, die dem Dax-Konzern in der Bilanz fehlen, liegen offenbar nicht in dem Inselstaat, wie der Präsident der Zentralbank in Manila am Sonntag mitteilte. Das Geld sei nicht in das Finanzsystem gelangt, sagte Benjamin Diokno.

Bei den beiden Banken BDO und BPI, die im Zusammenhang mit dem Bilanzskandal in Medienberichten genannt wurden, sei kein Kapital abgeflossen. Die Namen der zwei größten Finanzhäuser des Landes würden benutzt, um „die Spur der Täter zu verwischen“. Die Zentralbank werde Nachforschungen aber anstellen, versprach Dionko. Auch die Bank BPI äußerte sich am Montag.

So seien die angeblichen Bankbestätigungen für Treuhandkonten von Wirecard bei der philippinischen Bank waren nach Angaben ihres Vorstandschefs eine plumpe Fälschung. „Als man uns das sogenannte Zertifikat gezeigt hat, war sehr klar, dass es falsch war“, sagte der Chef der Bank of the Philippine Islands (BPI), Cezar Consing, am Montag. Auf Konten der Bank sei nie Geld von Wirecard gelandet. Er habe am vergangenen Montag (15. Juni) davon erfahren, als die Wirtschaftsprüfer von EY angefragt hätten, ob das Dokument echt sei. Die Bank habe umgehend festgestellt, dass ein „sehr niedrigrangiger“ Manager das gefälschte Zertifikat unterzeichnet habe. Die Bank habe ihn entlassen.

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Damit verdichten sich die Anzeichen für einen Milliardenbetrug. Bereits am Freitag hatten die philippinischen Banken BDO Unibank und auch die Bank of the Philippine Islands mitgeteilt, dass Wirecard kein Kunde bei ihnen sei. Dokumente externer Prüfer, die das Gegenteil besagen, seien gefälscht. Auf den Konten der beiden Banken hätte die Summe eigentlich liegen sollen.

Wegen des fehlenden Nachweises der 1,9 Milliarden Euro hatte der Wirtschaftsprüfer EY Wirecard das Testat für den Jahresabschluss verweigert. Das Fehlen von Geld und Testat löste ein Beben aus, das am Freitag Unternehmenschef Markus Braun den Job kostete und den Kurs der Wirecard-Aktie weiter abstürzen ließ.

Der Sinkflug ging auch am Wochenende weiter. Beim Broker Lang & Schwarz, bei dem auch am Samstag gehandelt werden kann, notierten die Papiere des Dax-Konzerns bei 22,25 Euro und damit knapp 14 Prozent unter ihrem Freitagsschlusskurs. Damit hat das Papier binnen weniger Tage mehr als drei Viertel seines Werts eingebüßt: Noch am vergangenen Mittwoch hatte die Aktie bei mehr als 100 Euro notiert.

Doch es könnte noch schlimmer kommen: Wegen des fehlenden Testats könnten Banken Wirecard nun den Geldhahn abdrehen und Kredite von rund zwei Milliarden Euro kündigen. Wirecard machte den Anlegern bereits am Freitag Hoffnung: Man befinde sich in „konstruktiven Gesprächen“ mit seinen kreditgebenden Banken, hieß es.

Die Hoffnung auf ein Stillhalten der Institute wurde von einem Zeitungsbericht gestützt: Wie die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ berichtete, wollen die Banken das Unternehmen nicht fallen lassen. „Keiner hat ein Interesse daran, den Kredit zu kündigen“, hieß es demnach am Samstag aus einem der beteiligten Geldhäuser. „Alle wollen jetzt das Ding kurzfristig stabilisieren.“ Aus dem Umfeld von Wirecard hieß es dem Bericht zufolge, man hoffe auf eine Einigung bis Ende kommender Woche.

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Wirecard hatte am Donnerstag den Jahresabschluss 2019 zum vierten Mal verschoben mit der Begründung, der Abschlussprüfer EY habe keine Hinweise auf die Existenz von Guthaben über 1,9 Milliarden Euro gefunden und deshalb ein Testat verweigert. Die Aktien stürzten ab, Firmenchef Braun trat zurück, der für das Tagesgeschäft verantwortliche Vorstand Jan Marsalek wurde suspendiert. Wirecard selbst sieht sich als Betrugsopfer. In Medienberichten wurde dem Konzern immer wieder die Manipulation von Bilanzen vorgeworfen, Braun hatte dies stets bestritten.

Sein Nachfolger Freis hätte eigentlich erst am 1. Juli als normales Vorstandsmitglied starten sollen und dafür sorgen müssen, dass bei Wirecard Recht und Gesetze eingehalten werden. Bei der Aufklärung des Bilanzskandals dürfte dem 49-Jährigen nun zu Gute kommen, dass er neu zu Wirecard kam – alle anderen Vorstände sind teils seit Jahrzehnten dort – und dass er bei seinem letzten Arbeitgeber Deutsche Börse das Ressort Compliance verantwortet hat. Freis studierte an der Georgetown University in Washington Wirtschaftswissenschaften und promovierte im Fach Jura in Harvard. Unter anderem war er bei der New Yorker Niederlassung der US-Notenbank Fed und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich beschäftigt.

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Unterstützung bei den Verhandlungen mit den Banken holte sich Freis von der Investmentbank Houlihan Lokey, die auf die Beratung von Restrukturierungsfällen spezialisiert ist. Die Banken können wegen des fehlenden Testats Kredite im Volumen von rund zwei Milliarden Euro fällig stellen, wie Wirecard selbst mitteilte. Insidern zufolge geht es um eine Kreditlinie eines aus 15 Instituten bestehenden Konsortiums.

Auseinandersetzen muss sich Freis künftig allerdings auch mit einer Flut an Klagen. Vertreter von Kleinaktionären sowie die Fondsgesellschaften DSW und Union Investment prüfen die Einleitung von juristischen Schritten. Darüber hinaus ermitteln Bafin und die Staatsanwaltschaft München wegen des Verdachts auf Marktmanipulation.

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