WirtschaftsWoche: Herr Professor Bogumil, Unternehmen klagen über zu viel Bürokratie. Aber die Wirtschaft fühlte sich schon immer durch Gesetze und Verordnungen gegängelt. Was ist also neu an den Klagen über zu viel Bürokratie?
Jörg Bogumil: An der Grundsituation hat sich nicht viel geändert. Planungs- und Verwaltungsprobleme gab es schon immer. Aber das Bewusstsein dafür, dass wir eine Problemlage haben, ist größer geworden. Es kommen jedes Jahr neue Regelungen über die EU und deutsche Gesetze hinzu. Der Aufwand in den Unternehmen steigt also. Die Beteiligten registrieren inzwischen, dass die Bürokratie mit wirtschaftlichen Nachteilen verbunden ist.
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Führen neue Gesetze automatisch zu mehr Bürokratie?
Das muss nicht sein. Aber Politiker denken nicht daran, dass die Gesetze, für die sie verantwortlich sind, auch bürokratiearm umgesetzt werden sollten. In Deutschland wird beispielsweise bei der Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II (Hartz IV) jeder Einzelfall bis zum Ende durchgeprüft, weil es das Gesetz so vorsieht. Da wird dann z. B. rund 800 Euro Leistungen pro Einzelfall geprüft, ob ein Antragsteller 40 Euro mehr oder weniger im Monat bekommt. So entsteht ein riesiger Verwaltungsaufwand, der viel teurer ist, als die Einsparpotentiale. Es wäre einfacher und günstiger, in vielen Fällen mit Pauschalierungen zu arbeiten.
Führt das nicht zu Neid und Missgunst?
Tatsächlich haben wir in der Bevölkerung ein Mentalitätsproblem. Die Deutschen nehmen jede Ungleichbehandlung sensibel wahr. Das liegt auch an Medien wie der „Bild“-Zeitung, die den Missbrauch in Einzelfällen zu einem großen Grundsatzthema stilisieren. Die Menschen fordern perfekte Gleichbehandlung und vergessen dabei, dass das mit enormen Kosten und Aufwand verbunden ist. Über die Gängelung im Einzelfall wird medial kaum berichtet. Das würde helfen, die Schattenseiten der Bürokratie zu sehen.
Unternehmen vergleichen sich weniger mit anderen Unternehmen, sie wollen einfach ihre Fabrik genehmigt bekommen. Warum dauern Verwaltungsprozesse in Deutschland oft so lange?
In den Verwaltungen sitzen zu viele Juristen. Die Beamten haben Angst vor Fehlern, etwa vor dem Landesrechnungshof, der ihnen Verschwendung von Staatsgeldern vorwirft. Oder sie fürchten Klagen von Leuten, die ihre Entscheidungen angreifen. Beamte orientieren sich dann oft am risikoarmen Verwaltungshandeln: ‚Bloß keine Fehler machen.‘ Dieses Denken ist tief in der Verwaltung verankert. Es prägt schon die Verwaltungsausbildung, die von Juristen dominiert wird. Das gilt auch für die Ministerien, die Verordnungen erlassen und Gesetze vorbereiten. Selbst im Bundeswirtschaftsministerium sitzen mehr Juristen als Wirtschaftswissenschaftler. Natürlich brauchen wir Juristen, aber auch Leute, die ergänzendes Wissen haben: Sozialwissenschaftler, Ökonomen und Naturwissenschaftler.
Ließe sich das Denken in den Behörden ändern?
Die gute Nachricht lautet: Es geht. Und zwar über die Führungskräfte. Es gibt viele Rechtsbegriffe, die Interpretationsspielraum erlauben. Entscheider in den Verwaltungen, der Bundesnetzagentur oder den Genehmigungsbehörden könnten Gesetze, Verordnungen und Fristen zugunsten der Antragsteller auslegen. Man muss das aber wollen. Dafür muss das Bewusstsein vorhanden sein. Oder anders gesagt: Die Angst muss durchbrochen werden. So eine Veränderung kann nur von der Behördenspitze ausgehen und muss über die Führungskräfte weitergetragen werden. Wenn eine Behörde in einem Rechtsstreit mal verliert, dann verliert sie halt mal. Wenn das die Ausnahme bleibt, wäre das überhaupt kein Problem.
Gesetze und Verordnungen führen auch zu höherer Sicherheit. Unterschätzen wir die Vorteile der Bürokratie?
Sie haben vollkommen recht: Bürokratie ist wichtig. Sie führt zu Fairness, Rechtssicherheit und bekämpft Korruption. Das sind hohe öffentliche Güter. Ich bin daher dagegen, Bürokratie generell schlechtzureden. Es geht wie so oft im Leben um die richtige Balance – und inzwischen schlägt das Pendel allzu oft Richtung Überregulierung aus. Nehmen wir den Brandschutz: Nach dem verheerenden Brand in Düsseldorfer Flughafen 1996 wurden die Brandschutzmaßmaßnahmen überall verschärft. In kaum einem anderen Land gibt es so viele Regeln für den Brandschutz. Viele Regeln halte ich für überzogen. Die Bevölkerung will geschützt werden, aber sie unterschätzt den Aufwand.
Das heißt, die Deutschen fordern quasi einen bürokratischen All-Inclusive-Schutz, ohne die Kosten im Blick zu haben?
Mehr Gelassenheit würde uns guttun. Nehmen wir den Datenschutz. Es gibt große Kulturunterschiede. In Schweden liegt die Steuererklärung von jedem Bürger offen im Netz. Jeder kann dort einsehen, was der Nachbar verdient – und es interessiert kaum einen. In Deutschland wäre das undenkbar. Der Datenschutz gilt hierzulande quasi als Menschenrecht. Ich wünsche mit mehr Gelassenheit und mehr Transparenz. Wir dürfen das nicht verwechseln mit der Laxheit osteuropäischer Verwaltungssystemen. Es geht einfach darum, flexibler zu sein. Der Datenschutz ist in vielen Fällen ein echtes Problem und ein Innovationskiller. Wir müssen in diesem Bereich mehr Schweden zulassen.
Die Ampel-Koalition will die Bürokratie zurückdrängen. Trauen Sie ihr das zu?
Es muss ein großer Ruck durch Deutschland gehen. Wir haben etwa bei der Digitalisierung viel später angefangen als andere Gesellschaften. Viele Datensätze sind unverknüpft, das heißt die Behörden können innerhalb Deutschlands kaum Daten miteinander austauschen mit Nachteilen für Bürger und Unternehmen. Wir liegen zehn Jahre zurück. Österreich zum Beispiel ist uns deutlich voraus. Im Koalitionsvertrag stehen viele vernünftige Dinge drin, aber die Regierung muss sie auch umsetzen. Ich hoffe , dass wir bei der Entbürokratisierung bis Ende der Legislaturperiode einen großen Sprung nach vorne machen werden, aber das ist überhaupt kein Selbstläufer.
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