China, Rentner und Instagram Drei Gründe für den Übertourismus

China, Rentner und Instagram: Drei Gründe für den Übertourismus Quelle: imago images

Immer mehr Reiseziele laufen über. Entscheidend dafür ist nicht die höhere Anzahl der Alleinreisenden, sondern ein verändertes Reiseverhalten von uns allen. Die bisherigen Marktführer haben das unterschätzt.

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In diesem Sommer bekommt der klassische Spruch „Reisen bildet“ an immer mehr Orten eine neue Bedeutung. Etwa in Venedig oder Lissabon lernen Urlauber sich in großen Menschenmengen zu bewegen. Und in Mallorca oder Barcelona erfährt der Besucher anhand von Wandparolen wie „Tourist = Terrorist“, dass er auf einmal als böse, ja als Feind, gesehen werden kann, selbst wenn er gute Absichten hat und viel Geld in Shops oder Restaurants am Ort lässt.

Die Branche nennt die Überforderung von Zielgebieten durch die schiere Masse und die zunehmende Aggression der Einwohner „Overtourism“. Der Übertourismus hat vor allem für die Chefs von Veranstaltern wie TUI zwei Gründe: das unerwartet starke Wachstum und die unbeholfene Reaktion der Ferienziele auf den Ansturm. „Wir können die Zahl der Reisenden ja nur bedingt begrenzen“, spricht etwa Hans Müller, oberster Mallorca-Repräsentant von Europas Ferienkonzern Thomas Cook, allen Veranstaltern aus der Seele. Dazu sehen die Konzerne die Schuld für die gefährliche Entwicklung nicht bei sich, sondern bei den Vermittlungsplattformen. „In Barcelona beispielsweise stellt Airbnb bereits drei Viertel der Unterkünfte“, schimpft Norbert Fiebig, Präsident des Deutschen Reiseverbands.

Doch auch wenn der frühere Chef der Rewe Touristik da nicht schief liegt: Am Ende sind auch die Reisekonzerne ein Teil des Problems, weil sie ein paar wichtige Trends zumindest falsch eingeschätzt haben.

von Rüdiger Kiani-Kreß, Volker ter Haseborg

Da ist zum einen das Wachstum. Das Geschäft mit dem Fernweh hat selbst nach Schocks wie den Terroranschlägen des 11. September 2001 oder in der Welt-Finanzkrise ab 2008 immer zugelegt. Doch das Tempo ist größer als noch vor 20 Jahren. Entsprach das jährliche Wachstum früher ungefähr dem der Wirtschaft insgesamt, so legt das Reisegeschäft nun je nach Land bis zu einem Viertel stärker zu als das jeweilige Bruttoinlandsprodukt.

Nicht zuletzt wegen der weltweit wachsenden Mittelschicht stieg die Zahl der Auslandsreisenden weltweit von gut einer Milliarde pro Jahr vor einem Jahrzehnt auf gut 1,4 Milliarden heute. Und bis 2030 soll die Zwei-Milliarden-Marke fallen. Denn laut einer Prognose vom World Travel and Tourism Council (WTTC), ein Dachverband von 150 Reiseriesen von der Tui über die Hilton Hotels bis zum Taxischreck Uber, kommen nochmal gut 500 Millionen dazu. „Und fast alle wollen zu den schönsten und wichtigsten Orten in Europa, die bereits überlastet sind“, erwartet Karl Born, Ex-TUI-Vorstand und heute Honorarprofessor an der Hochschule Harz in Wernigerode.

Der größte Treiber der Entwicklung ist China. Mindestens die Hälfte der gut eine halbe Milliarde Neu-Reisenden kommt aus der Volkrepublik, ergibt eine Studie des China Outbound Tourism Research Institute (COTRI) aus Hamburg. Dafür sorgt vor allem, dass die schnell wachsende Mittelschicht relativ mehr Geld in den Urlaub steckt als andere Länder mit dem gleichen Entwicklungsstand. Von den derzeit rund 150 Millionen Auslandsreisenden aus China zieht es gut zehn Prozent nach Europa. Und stimmen die Prognosen, dann werden sich in 2030 bis zu 50 Millionen Chinesen die alte Welt ansehen wollen. Zum Vergleich: Aus Deutschland reisen derzeit gut 60 Millionen Menschen pro Jahr ans Mittelmeer oder zu anderen Zielen in der alten Welt.

Kampf gegen die Enge
Amsterdam, NiederlandeKultururlauber, Studenten, Geschäftsreisende und reichlich Partytouristen – vor gut zwei Jahren wurde es den Bewohnern der Grachtenmetropole zu eng, zu laut und vor allem zu dreckig. Also begrenzte die Stadtverwaltung die Zahl der Touristenläden und der Vermietungen über Wohnungsportale wie Airbnb oder Booking.com, obwohl letztere ihre Weltzentrale an der Herengracht hat. Trotzdem wurde die Regierung abgewählt und die Nachfolger verboten nun im Zentrum neue Touri-Läden und Bierwagen komplett. Kurzzeitige Wohnungsvermietung begrenzte die grüne Administration erneut und stellten eine eigene Kontrolltruppe auf. Quelle: imago images
Barcelona, SpanienKataloniens Hauptstadt zeigte als erste die guten Seiten des Tourismus. Hier florierte die Wirtschaft, als im Rest Spaniens mit der Finanzkrise ab 2008 die Immobilienblase platzte. Doch die Stadt spürte auch als erste die Schattenseiten. Während die Bürger auf dem Hügel den Boom genossen, traf die Bewohner der Innenstadt und des strandnahen Arbeiterviertels Barceloneta die Schattenseiten in Form steigender Lebenshaltungskosten. Also wählten sie die radikale Ada Colau zur Bürgermeisterin und die begrenzte als erstes Stadtoberhaupt Europas die Wohnungsbörsen und Hotels. Nur gegen die Kreuzfahrtbranche ist sie machtlos. Denn der Hafen gehört der Zentralregierung. Und für die ist das Wohl der abtrünnigen Katalanen nicht so wichtig. Quelle: imago images
Boracay, Philippinen oder Maya Beach, Thailand Die Traumstände Ostasiens zogen schon immer Aussteiger an. Doch wie im vor Ort gedrehten Film The Beach mit Leonardo di Capri kippte die Idylle zuletzt ins alptraumhafte. Von Aussteigern aus dem Westen bis zu chinesischen Touristen bevölkerten immer mehr Urlauber die Strände und setzten der Natur mit Müll und Wasserverbrauch zu. So sehr, dass die Behörden nun mehrere Strände mit strengen Umweltauflagen regulierten. Als das nichts nützte, weil sich fast keiner an die Auflagen hielt, sperrten sie nun mehrere Strände komplett – erst einmal für ein halbes Jahr, damit sich die Natur von den Erholungsbedürftigen erholen kann. Quelle: imago images
Dubrovnik, KroatienDie Stadt an der Adria hat der Tourismus gleich zweimal gerettet. Einmal zum Ende des jugoslawischen Sozialismus, als es den Bewohnern besser ging als im Rest des Landes; dann erneut nach den Zerstörungen des Bürgerkriegs in den Neunzigerjahren. Dafür sorgten die mittelalterliche Altstadt und die mystisch-blutige Kultserie "Game of Thrones", die unter anderem hier gedreht wurde. Dann kam der Kreuzfahrtboom. Hier erlebte die Stadt zuerst die negativen Seiten, wenn mehrere Riesenpötte gleichzeitig ihre jeweils bis zu 5000 Passagiere abwarfen – und zeigte dann, wie Städte weltweit das Problem mildern können: Indem sie den Reedereien feste Zeiten vorgeben und gleichzeitig den Zugang zur Altstadt regulieren. Quelle: imago images
Kapstadt, SüdafrikaWasser war lange Zeit das große Plus der Hafenstadt am Tafelberg. Die schöne Küste und das – zumindest auf der Seite des indischen Ozeans – warme Meer, locken seit Jahren nicht zuletzt immer Pensionäre oder Wintermüde aus Deutschland an die Südspitze des afrikanischen Kontinents sowie in die naheliegenden Weinanbau-Gebiete. Nun ist Wasser eines der großen Probleme. Denn weil Bevölkerung und Tourismus wachsen, wird das Trinkwasser knapp und wird sowohl in Hotels als auch in Restaurants eingespart. Quelle: imago images
Machu Picchu, PeruDie abgelegene Inka-Stadt in Peru macht es Touristen nicht leicht. Wer sich keinen Helikopter leisten mag, kann sie nur durch eine längere Anreise inklusive einer strapaziösen Bahnfahrt erreichen. Der Besuch erfordert eine Übernachtung in einer landestypisch einfachen Unterkunft. Trotzdem zieht es jeden Tag bis zu 5000 Besucher in die dünne Luft, was das Ruinenplateau an seine Grenzen bringt. Also gibt es Tickets fast nur im Vorverkauf und im Schichtbetrieb. Wem das zu stressig ist, der kann alternativ auch ähnliche, wenn auch nicht ganz so erhabene Orte wie Choquequirao oder Ollantaytambo besuchen. Dort kann man in einer von den Inkas geplanten Stadt wohnen und in aller Ruhe noch intakte Häuser, Terrassen und Stadtmauern besichtigen. Quelle: imago images
Milford Track, NeuseelandWer wirklich mal aus allem raus will und sich wirklich frischer Luft und nicht wie Skandinavien den Stechmücken aussetzen will, der wandert in Neuseeland auf einem der neun Great Walks genannten Wanderwege. Weil das leider viel zu viele gestresste Großstädter wollen, sind die Wege bereits seit Jahren an schwer strapaziert. Darum wurde der wohl schönste Weg namens Milford Track beschränkt auf 90 Wanderer pro Tag im vom Wetter her einigermaßen stabilen europäischen Winter. Gleichzeitig wurden zuletzt auf sechs anderen der Great Walks die Preise angehoben. Für die gut 50 Kilometer lange Tour durch Berge, Sümpfe und Regenwälder im Stil vom Epos Herr der Ringe zahlen Ausländer nun umgerechnet 80 Euro. Quelle: imago images

Und dabei hat gerade Europa noch Glück. Denn rein von der wirtschaftlichen Entwicklung müssten jedes Jahr auch rund 100 Millionen Bewohner Indiens die Koffer packen und zu einem großen Teil in Richtung Europa reisen. Tatsächlich ist dem aber nicht so. „Wenn wir die Reisen zu Verwandten in Großbritannien und den USA abziehen, ist die Zahl indischer Touristen sehr gering“ sagt COTRI-Chef Wolfgang Georg Arlt. Die Reisefreunde dämpfen nicht zuletzt religiöse Vorschriften, die das Essen in der Fremde oft etwas schwierig gestalten.

Besonders das Wachstum aus China haben Europas Veranstalter zwar kommen sehen, aber kaum reagiert. Einige sind wie Tui bereits kurz nach der Jahrtausendwende in der Volksrepublik China aktiv. Doch angesichts der guten Geschäfte daheim agierten sie in Fernost eher halbherzig. Sie präsentierten mehr oder weniger Varianten der europäischen Pauschalreise statt eigens für den Markt ersonnene Angebote zu präsentieren wie lokale Veranstalter wie CTRIP. „Und als uns das klar wurde, haben wir uns zu wenig bemüht, den Chinesen statt des Gesamtpakets zumindest den europäischen Teil der Reise in Form von Übernachtungen oder Transfers zu verkaufen“, so ein Tui-Manager.

Damit hätten die Reiseriesen nicht nur Geld verdient, sondern auch einen Betrag gegen den Übertourismus geleistet. Denn auch wenn das Gros der Chinesen auf ihren ersten Reisen die Top-Sehenswürdigkeiten wir Paris oder Rom abhaken will: Ihr Interesse ist deutlich breiter. „Diese Gäste haben meist weniger vorgefasste Meinungen über die „richtige“ Saison und akzeptieren alternative Ziele – einfach, weil sie die Üblichen nicht so recht kennt“, so Arlt. Hier können die Veranstalter punkten.

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