In diesem Sommer bekommt der klassische Spruch „Reisen bildet“ an immer mehr Orten eine neue Bedeutung. Etwa in Venedig oder Lissabon lernen Urlauber sich in großen Menschenmengen zu bewegen. Und in Mallorca oder Barcelona erfährt der Besucher anhand von Wandparolen wie „Tourist = Terrorist“, dass er auf einmal als böse, ja als Feind, gesehen werden kann, selbst wenn er gute Absichten hat und viel Geld in Shops oder Restaurants am Ort lässt.
Die Branche nennt die Überforderung von Zielgebieten durch die schiere Masse und die zunehmende Aggression der Einwohner „Overtourism“. Der Übertourismus hat vor allem für die Chefs von Veranstaltern wie TUI zwei Gründe: das unerwartet starke Wachstum und die unbeholfene Reaktion der Ferienziele auf den Ansturm. „Wir können die Zahl der Reisenden ja nur bedingt begrenzen“, spricht etwa Hans Müller, oberster Mallorca-Repräsentant von Europas Ferienkonzern Thomas Cook, allen Veranstaltern aus der Seele. Dazu sehen die Konzerne die Schuld für die gefährliche Entwicklung nicht bei sich, sondern bei den Vermittlungsplattformen. „In Barcelona beispielsweise stellt Airbnb bereits drei Viertel der Unterkünfte“, schimpft Norbert Fiebig, Präsident des Deutschen Reiseverbands.
Doch auch wenn der frühere Chef der Rewe Touristik da nicht schief liegt: Am Ende sind auch die Reisekonzerne ein Teil des Problems, weil sie ein paar wichtige Trends zumindest falsch eingeschätzt haben.
Da ist zum einen das Wachstum. Das Geschäft mit dem Fernweh hat selbst nach Schocks wie den Terroranschlägen des 11. September 2001 oder in der Welt-Finanzkrise ab 2008 immer zugelegt. Doch das Tempo ist größer als noch vor 20 Jahren. Entsprach das jährliche Wachstum früher ungefähr dem der Wirtschaft insgesamt, so legt das Reisegeschäft nun je nach Land bis zu einem Viertel stärker zu als das jeweilige Bruttoinlandsprodukt.
Nicht zuletzt wegen der weltweit wachsenden Mittelschicht stieg die Zahl der Auslandsreisenden weltweit von gut einer Milliarde pro Jahr vor einem Jahrzehnt auf gut 1,4 Milliarden heute. Und bis 2030 soll die Zwei-Milliarden-Marke fallen. Denn laut einer Prognose vom World Travel and Tourism Council (WTTC), ein Dachverband von 150 Reiseriesen von der Tui über die Hilton Hotels bis zum Taxischreck Uber, kommen nochmal gut 500 Millionen dazu. „Und fast alle wollen zu den schönsten und wichtigsten Orten in Europa, die bereits überlastet sind“, erwartet Karl Born, Ex-TUI-Vorstand und heute Honorarprofessor an der Hochschule Harz in Wernigerode.
Der größte Treiber der Entwicklung ist China. Mindestens die Hälfte der gut eine halbe Milliarde Neu-Reisenden kommt aus der Volkrepublik, ergibt eine Studie des China Outbound Tourism Research Institute (COTRI) aus Hamburg. Dafür sorgt vor allem, dass die schnell wachsende Mittelschicht relativ mehr Geld in den Urlaub steckt als andere Länder mit dem gleichen Entwicklungsstand. Von den derzeit rund 150 Millionen Auslandsreisenden aus China zieht es gut zehn Prozent nach Europa. Und stimmen die Prognosen, dann werden sich in 2030 bis zu 50 Millionen Chinesen die alte Welt ansehen wollen. Zum Vergleich: Aus Deutschland reisen derzeit gut 60 Millionen Menschen pro Jahr ans Mittelmeer oder zu anderen Zielen in der alten Welt.
Und dabei hat gerade Europa noch Glück. Denn rein von der wirtschaftlichen Entwicklung müssten jedes Jahr auch rund 100 Millionen Bewohner Indiens die Koffer packen und zu einem großen Teil in Richtung Europa reisen. Tatsächlich ist dem aber nicht so. „Wenn wir die Reisen zu Verwandten in Großbritannien und den USA abziehen, ist die Zahl indischer Touristen sehr gering“ sagt COTRI-Chef Wolfgang Georg Arlt. Die Reisefreunde dämpfen nicht zuletzt religiöse Vorschriften, die das Essen in der Fremde oft etwas schwierig gestalten.
Besonders das Wachstum aus China haben Europas Veranstalter zwar kommen sehen, aber kaum reagiert. Einige sind wie Tui bereits kurz nach der Jahrtausendwende in der Volksrepublik China aktiv. Doch angesichts der guten Geschäfte daheim agierten sie in Fernost eher halbherzig. Sie präsentierten mehr oder weniger Varianten der europäischen Pauschalreise statt eigens für den Markt ersonnene Angebote zu präsentieren wie lokale Veranstalter wie CTRIP. „Und als uns das klar wurde, haben wir uns zu wenig bemüht, den Chinesen statt des Gesamtpakets zumindest den europäischen Teil der Reise in Form von Übernachtungen oder Transfers zu verkaufen“, so ein Tui-Manager.
Damit hätten die Reiseriesen nicht nur Geld verdient, sondern auch einen Betrag gegen den Übertourismus geleistet. Denn auch wenn das Gros der Chinesen auf ihren ersten Reisen die Top-Sehenswürdigkeiten wir Paris oder Rom abhaken will: Ihr Interesse ist deutlich breiter. „Diese Gäste haben meist weniger vorgefasste Meinungen über die „richtige“ Saison und akzeptieren alternative Ziele – einfach, weil sie die Üblichen nicht so recht kennt“, so Arlt. Hier können die Veranstalter punkten.