Circus Roncalli „Ich fliege einen voll besetzten Jumbo-Jet und weiß nicht, wie viel Treibstoff noch im Tank ist“

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Roncalli ist kulturell förderungswürdig

Viel Ehr...
Ja, und vor diesem Hintergrund habe ich gefragt: Warum gelten wir jetzt nicht als Kultur? Ich habe zudem seit vielen Jahren vom Kultusministerium den Bescheid, dass Roncalli kulturell förderungswürdig ist. Gründe genug, um zu fragen, warum wir nicht zur Kultur zählen? Wir zählen zum Gewerbe. Fällt denn niemanden auf, dass wir ein Orchester und Ballett beschäftigen?

Was geschah dann?
Nachdem ich von Ministerium zum Ministerium hin-und- hergeschoben wurde, habe ich einen Brief geschrieben und um einen Termin gebeten um unsere Situation zu schildern und um Roncalli zu retten. Schließlich habe ich 250 Arbeitsplätze zu sichern. Ich habe bis zum heutigen Tag nicht einen Mitarbeiter entlassen. Leider habe ich nach drei Monaten bis heute noch keine Antwort bekommen.

Was würde Roncalli helfen?
Es geht zunächst einmal darum, dass wir in die richtige Schublade kommen, Roncalli ist nicht Gewerbe, sondern Kultur. Dies zieht jede Menge Probleme nach sich: steuerlich, gewerblich und so weiter. Dadurch werden wir anders besteuert. Das allein macht schon das Überleben schwer. Besonders bitter ist es, wenn man weiß, seit wann Circus nicht als Kultur gilt.

Seit wann ist das so?
Das ist ein unsägliches Erbe aus der Zeit der Nazi-Diktatur. Im Dritten Reich hat der Propagandaminister Goebbels festgestellt, dass im Circus und in Cabarets sehr viele Juden arbeiten. Daraufhin hat er den Circus abqualifiziert, das sei „Afterkunst“ und hat ihn aus der Kultur ausgeschlossen und praktisch zu einer Art Gewerbe gemacht. Und seit dem Dritten Reich ist das nun so. Ich habe das allen Politikern von Helmut Kohl bis Armin Laschet erklärt, und alle haben gesagt, das könne ja nicht sein, sie wollten sich kümmern. Passiert ist bis heute nichts. Der Zirkus gilt bis heute in Deutschland nicht als Kultur. Obwohl er in der EU in allen anderen Ländern als Kultur gilt und auch noch gefördert wird.

Welche Folgen hat das?
Wir müssen Gewerbesteuer zahlen und einen ganzen Rattenschwanz an Vorschriften beachten wie jeder Handwerksbetrieb. Was denken Sie, in welcher Berufsgenossenschaft der Circus Roncalli angemeldet ist? Wir gehören zum Bereich Gastronomie!  Sind Musiker Kellner oder die Tänzerinnen und das Ballett Serviererinnen? Es passt hinten und vorne nicht. Der Circus hat keine richtige Lobby, dabei muss er endlich einmal in das richtige Raster kommen, sonst rutschen wir wieder durch alles durch und uns wird nicht geholfen. Circus ist Kultur. Was denn sonst?!

Das klingt, als helfen Ihnen die angekündigten 75 Prozent Ausfallgeld, die Wirtschaftsminister Altmaier angekündigt hat für den laufenden Monat, auch nicht weiter?
Erstens mal wurde es angekündigt, das heißt noch nicht, dass wir es kriegen. Dann redet er nur von einem Monat , aber wir sind schon acht Monate ohne Einnahmen. Das würde allein das Apollo betreffen – und es würde nichts groß ändern. 

Warum nicht?
Dafür könnten wir in dem Monat gerade die Miete zahlen und Unkosten decken. Es ist ja nicht so, dass wir, wenn wir spielen, riesige Gewinne einfahren. Und mit dem Circus fallen wir, wie gesagt, komplett durch alle Raster. Wenn ich die Einnahmen beim Circus jetzt als Säule von 0 bis 100 Prozent hoch darstelle, dann fallen zunächst 80 Prozent Kosten an: Wir zahlen Miete, Strom, Heizung, Klimaanlage, Personal, die Künstler, die Reisen, die Unterbringung der Artisten, Beleuchter, Tontechniker, Orchester und, und, und. Der mögliche Gewinn bleibt bei 20 Prozent. Es ist also nicht so, dass wir mit dem Circus riesige Gewinne einfahren. Staatstheater beispielsweise können leicht mit der vollen Hose stinken, die kriegen ja trotzdem ihr Geld weiter, ob sie nun 100 Sitzplätze verkaufen oder 900, sie bekommen sie bezahlt. Wir bekommen nichts – obwohl wir bei Roncalli schon immer auf alle Dinge achten, die heute so wichtig geworden sind.

Was meinen Sie?
Wir sind seit drei Jahren ein Circustheater, weil wir alle Tiere abgeschafft haben, wir sind plastikfrei, wir verkaufen nur Bioprodukte. Selbst bei Produkten achten wir auf plastikfreie Verpackungen. Wegen unserer Philosophie wurden wir von den herkömmlichen Zirkussen lange angefeindet, wir würden den Zirkus killen. Heute machen sie uns alle nach. Wäre alles geblieben wie in den 50er Jahren, gäbe es schon lange keinen Zirkus mehr – man muss sich bewegen. Und das haben wir auch immer gemacht.


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Was passiert mit Roncalli, wenn Sie keine Unterstützung bekommen?
Wir kämpfen die ganze Zeit, wir senken unsere Kosten, wir kürzen unsere Steuervorauszahlung – alles, um flüssig zu bleiben und die laufenden Unkosten zu bezahlen. Und wir zehren unsere eigenen Reserven auf, mit denen wir eigentlich ein eigenes Zirkusmuseum in Köln aufbauen wollten. Aber auch das ist von der Stadt auf Sankt Nimmerlein vertagt. Ich warte seit Jahren auf eine Genehmigung. Die beste Förderung ist weniger Behinderung. Es macht ja keinen Sinn, den Zirkus hoch zu besteuern und dann zu fördern mit demselben Geld. Aber viel Hoffnung habe ich da nicht. Denn da werde ich wie ein Unwissender von einem zum anderen herumgeschickt. Das ist schlimmer als bei Kafka.

Wie lange halten Sie das noch durch?
Sie müssen es sich so vorstellen: Gefahr liegt in der Luft, aber man funktioniert noch. Ich habe einige Ideen, was wir tun können, aber das ist noch nicht spruchreif. Und niemand kann sagen, dass es nächstes Jahr besser wird. Wissen Sie – es fühlt sich so an: Ich fliege einen voll besetzten Jumbo-Jet und weiß nicht, wie viel Treibstoff noch im Tank ist. Noch fliege ich und reagiere – auf Wind, den Kompass, alles funktioniert. Aber ich weiß nicht, wie lange ich noch fliegen kann. Wann stürzen wir ab? Wir sind über dem Meer und wissen nicht, ob wir ans Ufer kommen, zum nächsten Flughafen. Und das geht nicht allein uns so, sondern der ganzen freien Kulturszene. Alle hängen in der Luft. Da muss man gute Nerven haben, funktionieren - und durchhalten. Denn ohne Kultur geht es nicht – von Politik allein kann keiner leben.

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