Comeback der Nachtzüge Das Erlebnis Nachtzug auf einem ganz neuen Niveau?

Quelle: Presse

Ausgeschlafen durch Europa reisen und das auch noch klimafreundlich? Die Nightjets der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) erleben ein Revival – und am Horizont arbeiten junge Unternehmen an der Nachtzug-Revolution.

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Das fängt ja gut an. „Unser Zug hat Verspätung“, meldet sich eine weibliche Stimme trocken aus dem Abteil-Lautsprecher. Es ist Punkt 20 Uhr, seit zwei Minuten soll der Nightjet 469 rollen. Doch nun steht er wie angewurzelt im Pariser Bahnhof Gare de l’Est. Eine vorausfahrende Bahn hat ein technisches Problem und blockiert das Gleis. Aber ach, wer im Nachtzug reist, der hat es nicht allzu eilig.

Die Gäste an Bord freuen sich, dass es ihn überhaupt gibt. Am Bahnsteig hielt ein kleiner Trupp Begeisterter gerade noch ein Pappschild hoch mit der Aufschrift „Wir bringen Europa voran“. Knapp zehn Stunden soll die Fahrt bis München dauern, gut 14 Stunden für diejenigen, die bis nach Wien wollen. Die Strecke ist eine von zweien, die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), Deutsche Bahn, Frankreichs SNCF und die Schweizer SBB zum Jahresende nach vielen Jahren Pause erneut auf die Schienen setzten.

Nach einer weiteren Viertelstunde Warten geht es jetzt ein paar Kilometer weit in den Nordosten von Paris. Dann ruckelt es wieder. Das Revival der Nachtzüge braucht seine Zeit. Bis die Grenze des Großraums von Paris erreicht ist, ist eine Stunde vergangen. 60 Minuten, um in Erinnerungen zu kramen und in der weißen Papiertüte, die im Abteil bereit steht mit etwas Knabberzeug und Mineralwasser darin, einer Schlafmaske und Einmal-Hausschuhen. Als es an der Tür klopft, wird noch eine 200-Milliliter-Flasche Söhnlein Brillant herein gereicht. Wenn ich mich schlafen legen will, soll ich Bescheid geben. Dann wird mein Bett gemacht. Ein richtiges Bett!

Das 2020 die Idee des Jahres unseres Kolumnisten: Statt mit dem unkalkulierbar vollen ICE mit dem österreichischen Nightjet von Hamburg in den Schwarzwald. Einsamer und aerosolfreier war Zugfahren vor Weihnachten nie.
von Marcus Werner

Wenn ich in den vergangenen Jahren noch spätnachmittags Termine in Paris hatte und anschließend nicht zurück nach München fliegen wollte, blieb am frühen Abend nur eine Bahnverbindung mit äußerst knappem und gefühlte 100mal verpasstem Umstieg in Stuttgart. Alternativ auch nächtliches Tigern im Untergeschoss des Mannheimer Bahnhofs mit natürlich längst geschlossenen Läden, bis gegen zwei Uhr der erste Zug des Tages Richtung Bayern einfuhr. In der umgekehrten Richtung stieg ich oft um halb vier morgens in München ein. Mit etwas Glück gab es an der Zugspitze gleich hinter dem Lokführer ein abgedunkeltes Ruheabteil, wo sich noch ein bisschen träumen ließ von Paris. 

Nun also Sekt, Bettwäsche und sogar ein eigenes Waschbecken in einem Single-Abteil. Der kleine Luxus sei zu Coronazeiten gestattet. Ok, WLAN wäre noch super, zeitgemäß sowieso. Aber man kann offenbar nicht alles haben zum Preis von 250 Euro inklusive Bahncard-50-Rabatt. Geworben wurde mit Einstiegspreisen ab 29,90 Euro – im Sitzwagen für sechs Personen. Einen Liegeplatz soll es ab 59,90 Euro geben. Theoretisch. Die bei der Buchung verfügbaren Plätze sind dann tatsächlich um einiges teurer.

Apropos Buchung: Sie ist die erste Herausforderung. Auf der Website der Deutschen Bahn (bahn.de) führten sämtliche Versuche in die Sackgasse: Nach dem Klick auf den entsprechenden Button folgte stets die Nachricht: „Es tut uns leid, wir können die von Ihnen gewählte Verbindung online nicht verkaufen. Tickets für Ihre Verbindung erhalten Sie ggf. in einem DB Reisezentrum, in einem Reisebüro mit DB-Lizenz oder wenden Sie sich an die Servicenummer der DB unter Tel. +49 6172 913731 (es gelten die Standardgebühren für Anrufe ins deutsche Festnetz).“ 

Seit Montag fahren zwei neue Nachtzüge durch Europa. Nicht zuletzt die Klimakrise macht Züge mit Schlafwagen wieder interessanter. Noch aber fehlt so manche Verbindung, die es vor Jahren schon mal gab.

Im Reisezentrum am Münchner Hauptbahnhof wusste niemand von den ab 13. Dezember wieder startenden Nachtzügen. Unter der angegebenen Service-Telefonnummer kam die automatisierte Auskunft, der Anschluss stehe lediglich für Umtausch und Stornierungen bereits bestehender Buchungen zur Verfügung stehe.

Auf Nachfrage erklärte eine DB-Mitarbeiterin, die Online-Buchung einzelner Verbindungen sei aufgrund eines technischen Fehlers vorübergehend nicht möglich. „Wir arbeiten mit Hochdruck an der Behebung. Voraussichtlich ab 13. Dezember werden wieder alle Kooperationsangebote über bahn.de und die App DB Navigator uneingeschränkt buchbar sein.“ Das war nicht der Fall. Nach mehrmaligen Versuchen klappte es schließlich auf der ÖBB-Website. 

Damit die Nachtzugsparten der Bahngesellschaften nicht wieder Defizite einfahren wie in früheren Jahren, sollte zumindest die Technik funktionieren. In Foren finden ohnehin noch viele, dass die Reise in der Horizontalen zu lange dauert und nicht mit Billigfliegern konkurrieren kann. Bevor die Deutsche Bahn 2015 aus Kostengründen beschloss, keine Züge mit Schlafmöglichkeiten mehr zu betreiben, machte sie nach damaligen Informationen der WirtschaftsWoche jedes Jahr rund 40 Millionen Euro Verlust. Bei einem Umsatz von etwa 100 Millionen Euro. Das Geschäft wurde an die ÖBB abgegeben, die nachtaktiv blieb. Zum Beispiel auf Strecken von München nach Florenz, Venedig, Zagreb und Budapest oder auch über Köln und Düsseldorf nach Amsterdam. Die DB schickte stattdessen ein paar Nacht-ICE auf die Strecke, die einen bei der Ankunft ganz schön alt aussehen lassen.

Niemand teilt sich mehr ein Abteil mit Fremden

In den nächsten Jahren soll das eingeschlafene europäische Streckennetz nun wieder ausgebaut werden. Dass die Nightjets einen zweiten Frühling erleben und Paris dafür als einer der ersten Start- und Zielbahnhöfe feststand, ist kein Zufall: Die Nachtzüge sollen helfen, die Ziele des Umweltgipfels von Paris aus dem Jahr 2015 zu erreichen: Die Erderwärmung soll im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter zwei Grad Celsius begrenzt und Anstrengungen für eine Beschränkung auf 1,5 Grad Celsius unternommen werden. Mit mehr als einer Million Fluggästen pro Jahr gehört die Strecke München-Paris bisher zu den Vielfliegerstrecken. Nach Berechnungen des Umweltbundesamts ist Bahnfahren aber etwa siebenmal so klimafreundlich wie Fliegen.

„Das allein wird kein Anreiz sein“, ist Adrien Aumont überzeugt. Der Gründer so erfolgreicher Crowdfunding-Plattformen wie KissKissBank, Lendopolis und Hello Merci beobachtet den Neustart der Nachtzüge nun genau – weil er und sein Kompagnon Romain Payet es künftig besser machen wollen. „Die Leute sollen aus dem Zug aussteigen und denken: Was für ein tolles Erlebnis. Und obendrein ist es auch noch umweltfreundlich.“ 

Aumont ist Mitbegründer des Start-ups Midnight Trains. In den Nachtzügen, die ihm vorschweben, teilt sich niemand mehr ein Abteil mit Fremden. Auch soll niemand mehr an einer Wasserflasche aus Plastik nuckeln, die Bahnpersonal ins Abteil gestellt hat wie an diesem Abend, oder ein paar Kräcker knabbern müssen. Während der Zug so wie jetzt durch Ostfrankreich rollt, könnten die Passagiere statt dessen auch Bars und Restaurants an Bord besuchen, in denen frisch zubereitete Speisen und Getränke angeboten werden. 

Vier Staatsbahnen wollen Nachtzüge wiederbeleben – etwa von Berlin nach Barcelona in 13 Stunden. Das hätte es wohl nie gegeben ohne das Engagement der Österreichischen Bundesbahnen – und die Leidenschaft ihres Chefs. 
von Christian Schlesiger

Auf die Idee brachte ihn seine Lebensgefährtin, die 2019 von einem Tag auf den anderen nicht mehr fliegen wollte. Also buchte das Paar ein Abteil im damals verkehrenden Nachtzug von Paris nach Mailand, kaufte Käse, Aufschnitt, Brot und Wein ein, lud sich einen Film aufs Tablet und verbrachte „die beste Reise meines Lebens“, erinnert sich Aumont. „Bei der Ankunft in Mailand wusste ich: Das ist es.“

Wie immer beließ es der Franzose, der die Schule mit 14 geschmissen hatte, nicht bei Schwärmerei. Spendable Geldgeber sind bereits unter namhaften französischen Business Angels gefunden. Zusammen mit Payet verhandelt Aumont derzeit mit Leasing-Gesellschaften für Schienenfahrzeuge. Im nächsten Frühling wollen sie ankündigen, mit welcher sie zusammenarbeiten werden. Die erste Strecke ab Paris soll dann Ende 2022 feststehen, der Preis für ausnahmslos Schlafwagenplätze sich ihm Rahmen eines Flugtickets inklusive An- und Abreise zum Flughafen sowie den Gebühren für die Gepäckaufgabe bewegen. Daran dass es trotz des jetzigen Gemeckers genügend Interessenten geben wird, zweifelt Aumont nicht. „Für den Anfang werden wir nicht der ÖBB Konkurrenz machen,“ verrät Aumont. „Aber wenn unsere Passagiere sich an unseren Service gewöhnt haben, werden wir angreifen.“

Erinnerungen an Filmszenen mit dem „Orient Express“ schieben sich noch kurz ins Gedächtnis. Ach ja, den will die französische Hotelkette Accor zu neuem Leben erwecken. Nachtzüge, so scheint es, haben gerade einen echten Drive. Dann übernimmt irgendwo vor Straßburg der Schlaf. 

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Hinter Augsburg gibt es Frühstück ans Bett. Kaffee, Brötchen, Joghurt, Marmelade, Käse… alles wie am Vorabend bestellt. Aber draußen ist tiefschwarze Nacht und der Magen noch in der Aufwachphase. Kaffee geht immer, der Rest kommt in den Rucksack für später. Vor dem Fenster flitzen schwach beleuchtete Bahnsteige vorbei. Kissing, Mering, Pasing. Dann pressiert es plötzlich. Ankunft am Münchner Ostbahnhof um 5.35 Uhr – acht Minuten vor Plan.

Mehr zum Thema: Das war die Idee des Jahres unseres Kolumnisten: Statt mit dem unkalkulierbar vollen ICE fuhr er vor Weihnachten 2020 mit dem österreichischen Nightjet von Hamburg in den Schwarzwald. Einsamer und aerosolfreier war Zugfahren nie, schreibt er.

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