Containerschiffe Chaosjahr 2021: Was der Container-Schifffahrt droht

Das Riesen-Containerschiff Ever Given der chinesischen Reederei Evergreen blockierte im Frühjahr den Suez-Kanal - und verursachte weltweit Störungen in den Lieferketten. Quelle: imago images

Erst blockierte ein Schiff den Suezkanal, dann schloss China seine Häfen, bis zum Jahresende herrschte in jeder Lieferkette Chaos: Ein Jahr wie 2021 hat die Schifffahrt nie erlebt – es wird tiefe Veränderungen auslösen.

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Als die Ever Given dieses Mal eine Passage durch den Suezkanal anmeldete, bereiteten sich die ägyptischen Kanalbehörden gut vor: Schon vor der Passage riefen die Beamten der Kanalbehörde den Notstand aus, sie schickten zwei Schlepperschiffe und die erfahrensten Kanallotsen zur Ever Given. Und dieses Mal ging alles glatt: Die Ever Given verließ den Kanal Mitte Dezember Richtung Nordeuropa ohne weitere Vorkommnisse.

Neun Monate zuvor hatte die Ever Given im Suezkanal noch weltweit Alarm ausgelöst. Im März 2021 hatte sich das 400 Meter lange Containerschiff in einem Sandsturm quergestellt und den an dieser Stelle einspurigen Kanal blockiert. Sechs Tage gab es kein Durchkommen durch die wohl wichtigste Handelsstraße auf den Weltmeeren, dann konnten Kanalbehörden und Spezialfirmen die Ever Given endlich befreien. Die Zeit reichte aus, um die Schifffahrt weltweit in ein Chaos zu stürzen. Schon vorher waren Schiffe verspätet und ausgebucht, Häfen überlastet und Lieferketten angespannt. Aber der Unfall der Ever Given führte der ganzen Welt vor Augen, wie sehr die Weltwirtschaft von der Handelsschifffahrt abhängig ist – und was schon eine einzelne Störung in diesem weltweiten Transportnetz auslösen kann.

Schon das Jahr 2020 galt als Ausnahmejahr für die Containerschifffahrt. Als die Coronapandemie sich im Frühjahr vor nun beinahe zwei Jahren über den Globus ausbreitete und Regierungen erst in China und dann auch in Europa Lockdowns, Reisebeschränkungen und sogar Fabrikschließungen verhängten, gingen viele Experten noch davon aus, dass diese Maßnahmen auch das Wirtschaftswachstum drücken würde, dass Fabriken weniger produzieren würden und deshalb auch weniger Güter über den Ozean transportiert werden müssten. Das Gegenteil trat ein: In den USA oder Europa dachten die Menschen nicht dran, weniger Geld auszugeben. Statt in Reisen und Hochzeitsfeiern investierten sie ihr Geld in Hausrenovierungen und neue Computer, Drehstühle und Schreibtische für ihr Homeoffices. Vieles davon wird in Fernost hergestellt und dann nach Europa und Amerika geschifft. Die Nachfrage nach Schiffstransporten schnellte in die Höhe, die Frachtraten ebenso. In China ließen sich nicht mal mehr genügend Container finden, um all die Waren zu verladen.

Im Jahr 2021 spitzte sich die Situation noch zu, weltweit kämpfen Unternehmen mit Lieferproblemen. So meldet das Ifo-Institut, dass knapp 81,9 Prozent der Industrie im Dezember unter Materialmangel litt, im Einzelhandel meldeten 81,6 der Unternehmen Lieferengpässe. Nicht jeder Engpass lässt sich auf die Schifffahrt zurückführen. Auch viele Rohstoffe sind knapp, es mangelt an Halbleitern, und die Energiepreise sind stark angestiegen. Doch viele dieser Probleme werden durch das Chaos im weltweiten Transport noch verschärft. Die Dauer der Krise und auch ihr Ausmaß übertreffen beinahe alle Prognosen – und könnten den weltweiten Transport dauerhaft verändern. Was vom Chaosjahr in der Containerschifffahrt bleiben wird:

1. Das Jahr 2021 hat bewiesen, wie störungsanfällig Lieferketten sind

Die Blockade des Suezkanals durch die Ever Given im März 2021 war nur der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Störungen in den weltweiten Lieferketten. Im Sommer standen in China erst die Kräne im Hafen von Yantian und dann in Ningbo still. Der Grund: In beiden Häfen hatten sich Arbeiter mit dem Coronavirus infiziert, die chinesischen Behörden riegelten die betreffenden Terminals daraufhin rigoros ab, um keinen weiteren Großausbruch des Virus zu riskieren. Die Reedereien mussten die Häfen umfahren, konnten die Container teils erst Monate später wieder verladen und wegschaffen.

Manche Schiffe fuhren direkt in den nächsten Stau: Die Häfen von Los Angeles und Long Beach sind die größten der USA, im Herbst hatten sie jedoch auch weltweit die längsten Wartezeiten. Weil es an Fahrern und Lastwagen mangelte, konnten die Häfen all die angelieferten Container nicht aus dem Hafengebiet rausschaffen. Zeitweise stauten sich vor der Küste über hundert Schiffe.

Jede einzelne dieser Störungen sorgte für neue Verzögerungen in den Schiffsfahrplänen. Nach Daten von Sea Intelligence schafften es im November nur ein Drittel aller Containerschiffe, ihre Fahrpläne einzuhalten. Nur hatten die Kunden wenig Alternativen: Auch in der Luftfracht gab es kaum freie Kapazitäten, selbst Schienen- und Landtransporte von Asien nach Europa waren über Monate ausgebucht.

„Es sind nicht die bösen Reeder, nicht die bösen Häfen, und nicht die bösen Fuhrunternehmer…“, beschrieb etwa Angela Titzrath, Vorstandschefin der Hamburger Hafen- und Logistik AG (HHLA) auf einer Podiumsdiskussion die Situation. „In einer Krisensituation, wie wir sie jetzt erleben, ist ein Zusammenwirken von allen Kräften notwendig, damit die Lieferkette nicht reißt.“

Nur können Unternehmen nicht immer auf alle Glieder in ihren Lieferketten einwirken – viele kamen deshalb nicht rechtzeitig an Vorprodukte oder Ressourcen und mussten Lieferschwierigkeiten melden. „Nur jeder sechste Großhändler kann seine Waren fristgerecht liefern“, sagt etwa Dirk Jandura, Präsident des Bundesverbands des Groß- und Außenhandels BGA.

2. Schiffstransporte sind teuer geworden. Daran müssen sich Kunden gewöhnen.

Ein weiterer Effekt: Die Transportpreise, in der Schifffahrt Raten genannt, stiegen in unbekannte Höhen. Vor der Coronapandemie kostete der Transport eines großen Containers aus Asien nach Europa häufig keine 2000 Dollar – mittlerweile kosten kurzfristige Buchungen am Spotmarkt beinahe das Zehnfache. Und auch für langfristige Verträge verlangen Reedereien mittlerweile ein Vielfaches der bisher üblichen Preise.

Selbst wenn sich Staus und Lieferchaos auflösen, ist kaum zu erwarten, dass die Raten auf alte Niveaus zurückfallen. „Die Frachtraten werden auf einem höheren Niveau sein, als sie es in den letzten zehn Jahren waren“, erwartet etwa Otto Schacht, Vorstand für den Bereich Seefracht bei der Spedition Kühne+Nagel. Das liegt auch an der veränderten Wettbewerbssituation: Im vergangenen Jahrzehnt haben sich viele Reedereien um Marktanteile gestritten, die Frachtraten dabei gegenseitig unterboten. Das hat einige Reedereien in die Pleite getrieben, noch mehr Anbieter wurden übernommen. Die übrig gebliebenen Reedereien haben sich in drei mächtigen Allianzen organisiert, in denen sie Schiffsfahrpläne gemeinsam organisieren und auch Buchungen verteilen. Zusammengerechnet kontrollieren diese Allianzen über 80 Prozent der verfügbaren Kapazität aller Containerschiffe – vor einem Jahrzehnt wären die Allianzen nicht mal auf ein Drittel gekommen. Doch diese Machtkonzentration macht es unwahrscheinlich, dass die Reedereien sich noch mal gegenseitig unterbieten werden. Vor allem, da sie auch in Nachhaltigkeit und neue Schiffstechnologien investieren müssen.

Reedereien mit Flugzeugflotte, mehr Vorratshaltung durch Unternehmen

„Es wird eine grundsätzliche Verschiebung des Kostenniveaus geben“, sagt etwa Oliver Knapp, Partner bei Roland Berger. Das gelte auch für die Kunden der Reedereien: „Die Logistikkosten werden für Unternehmen an Relevanz gewinnen, auch wegen der Diskussion um Nachhaltigkeit und CO2-Werte.“

3. Die Reedereien haben mehr verdient als je zuvor – und geben das Geld auch aus

Die höheren Frachtraten haben auch die Situation der Reedereien verändert – gravierend. Etwa Maersk: In 117 Jahren des Bestehens habe das Unternehmen nie ein profitableres Quartal erlebt, berichtete der Konzern bei der Vorstellung der Zahlen für das dritte Quartal Anfang November. Nach einer Schätzung des Analysedienstes Drewry könnte die Branche dieses Jahr insgesamt mehr als 150 Milliarden Dollar verdient haben. Allein Hapag-Lloyd, die größte Reederei Deutschlands, rechnet mit einem Gewinn von rund zehn Milliarden Euro.

Das Geld wollen die Reedereien nun ausgeben. Einen Teil der Gewinne investierten sie bereits in neue Schiffe: Hapag-Lloyd hat 16 Schiffe geordert – darunter gleich sechs Mega-Frachter, die mit einer Kapazität von 23.500 Standardcontainern zu den größten der Welt zählen werden. Konkurrent MSC bestellte gleich 43 neue Schiffe. Und Evergreen will seine Flotte mit 56 neuen Riesenfrachtern gleich verdoppeln.

Bis die Schiffe aus den Werften laufen, dauert es jedoch noch. Erst 2023 könnten die Schiffe auf See in Einsatz kommen und die bisher so knappen Kapazitäten ergänzen. Allerdings müssen die Reedereien wegen strengeren Umweltvorschriften Schiffe aussortieren, weil diese zum Beispiel zu viele Emissionen verursachen.

Und es sieht nicht danach aus, als würden die Reedereien sich erneut einen Wettkampf auf dem Wasser leisten wollen. Stattdessen drängen die Reeder zunehmend auch ans Land und in die Luft. Die chinesische Reederei Cosco etwa kaufte sich in ein Terminal am Hamburger Hafen ein und baut so ihre Position in Europa aus. Hapag-Lloyd beteiligte sich an einem Terminal in Wilhelmshaven, CMA CGM hingegen gab über zwei Milliarden Dollar aus, um ein Terminal am Hafen von Los Angeles zu übernehmen.

Andere Reedereien bauen ihre Flugzeugflotte aus. So kaufte Maersk zwei Boeing 777 Frachter, außerdem übernahm das Unternehmen den deutschen Fluglogistiker Senator. Damit hat Maersk mittlerweile 20 Frachtflieger, mit denen die Reederei ihren Kunden auch im Notfall schnelle Lufttransporte anbieten kann, falls die Schiffe gerade feststecken und die Waren nicht fristgerecht abholen oder liefern können. Auch Konkurrent CMA CGM hat deshalb seine Luftflotte auf zehn Frachtflieger vergrößert. Das zeigt: Die Reedereien wollen nicht mehr nur Waren über das Wasser befördern, sondern sich am gesamten Lieferweg beteiligen.

4. Lieber Just-in-Case als Just-in-time

Die Reedereien reagieren damit auch auf die veränderten Bedürfnisse ihrer Kunden. Viele Unternehmen haben in diesem Jahr die Erfahrung machen müssen, dass ihre Lieferketten längst nicht so stabil sind, wie sie erwartet hatten. Und sie müssen darauf reagieren. „Die Lösung wird nicht sein: Alles bleibt, wie es ist, und wir müssen einfach nur unsere Logistikstrukturen wieder in den Griff bekommen“, sagt Oliver Knapp, Partner bei der Unternehmensberatung Oliver Berger. Die Logistik stehe vor Umbrüchen, müsse sich auch technologisch an den Klimawandel anpassen. Auch die politische Landkarte verändert sich, Populismus und Regionalismus kratzen an der Idee der globalen Arbeitsteilung. „Das führt zu einer Veränderung der Warenströme.“

Das zeigt auch eine Umfrage der Beratung McKinsey unter Logistikmanagern: 42 Prozent der Firmen haben im vergangenen Jahr Lagerbestände ausgebaut, um flexibler zu sein. Statt auf das Prinzip „Just in time“ setzen sie auf das Prinzip „Just in case“: Sie wollen nicht riskieren, dass sie ihre benötigten Ressourcen nicht vor Ort in ihrem Werk haben, wenn sie sie benötigen. Stattdessen schaffen Sie sich lieber einen Vorrat. Der Vorteil: Lagerraum lässt sich auch kurzfristig anmieten. Lieferketten umzustellen ist aufwendiger. Nur 15 Prozent der Unternehmen haben laut McKinsey im vergangenen Jahr ihren Einkauf oder ihre Produktion regionalisiert. Dabei hatten das bei der Umfrage ein Jahr zuvor noch 40 Prozent der Befragten vor.

5. Das Chaos ist noch nicht vorüber

Wird 2022 nun weniger verrückt? Da sind sich auch die Experten nicht einig. Viele hoffen noch, dass sich die Situation in den kommenden Monaten entspannt. Andere knüpfen ihre Prognosen an Bedingungen: „Wenn die Pandemie grippeähnlich wird und sich die Konsumausgaben wieder stetig von Waren auf Dienstleistungen verlagern, wird es noch mehrere Monate dauern, bis sich die aktuellen Engpässe auflösen“, sagte etwa Chris Rogers, Ökonom bei der digitalen Spedition Flexport der Nachrichtenagentur Bloomberg.

Doch was, wenn die Pandemie zu weiteren Lockdowns und Hafenschließungen führt? Wenn die Nachfrage nach Konsumgütern und Transporten weiter stark bleibt? Dann könnten sich die Probleme in den Logistiknetzwerken bis weit ins Jahr 2023 hinziehen, sagt auch Rogers.

Auch ohne Coronapandemie steht den weltweiten Lieferketten spätestens im Juni ein neuer Stresstest bevor: Dann verhandeln an der US-Westküste Hafenbetreiber mit der Gewerkschaft ILWU. Bereits bei früheren Verhandlungen hatte die Gewerkschaft Häfen wie Los Angeles und Long Beach bestreikt, die Auswirkungen waren rund um die Welt spürbar.

von Jacqueline Goebel, Tobias Gürtler, Henryk Hielscher, Martin Seiwert, Peter Steinkirchner

Und so glaubt Angela Titzrath, Vorstandsvorsitzende des Hamburger Hafenbetreibers HHLA, nicht an eine Rückkehr zur Normalität: „So sehr wir uns alle danach sehnen, das Wort Normalität wieder in den Mund zu nehmen, so sehr glaube ich, dass wir uns alle davon verabschieden müssen, dass es so etwas wie Normalität im nächsten Jahr geben wird“, sagt sie.

Mehr zum Thema: Häfen und Straßen sind verstopft, Frachtraum bleibt knapp. Vieles spricht dafür, dass das Chaos in den Lieferketten im kommenden Jahr anhalten wird und die Logistik dauerhaft teurer wird. Unternehmen müssen sich radikal umstellen.

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