In den offiziellen Insolvenzstatistiken ist von der sich anbahnenden Wirtschaftskrise indes nichts zu sehen. Im Gegenteil: 2020 haben in Deutschland so wenige Firmen Insolvenz angemeldet wie seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Doch was heißt das schon, wenn sich die Pleitestatistik von der Realität abgekoppelt hat?
Kurzarbeitergeld und milliardenschwere staatliche Rettungspakete halten viele Unternehmen derzeit künstlich über Wasser. Zugleich kaschieren gesetzliche Änderungen die Lage: Im vergangenen Frühjahr hatte die Bundesregierung den Chefs pandemiegeschädigter Firmen erlaubt, auf einen Insolvenzantrag zu verzichten. Ursprünglich sollten die Erleichterungen nur bis Herbst gelten. Doch dann wurde die Rückkehr zur Insolvenznormalität auf Ende 2020 vertagt und schließlich auf den 31. Januar 2021. Inzwischen zeichnet sich schon die nächste Verschiebung ab. „Die Insolvenzzahlen hängen letztlich von der politischen Geschäftsgrundlage ab“, sagt White&Case-Partner Undritz. „Die Welle baut sich auf, offen ist, wann sie bricht.“
Etliche Geschäftsführer kleinerer Krisenfirmen „haben bei den Insolvenzregelungen den Überblick verloren und wissen gar nicht, ob sie nun eigentlich Insolvenz anmelden müssen oder nicht“, sagt Insolvenzverwalterin Berner. „Im Zweifel setzen viele auf das ‚Prinzip Hoffnung‘ und machen erstmal weiter“. Das könne am Ende aber die Sanierung gefährden und birgt erhebliche Haftungsrisiken“, warnt die Experten. Bei größeren Unternehmen sieht das etwas anders aus.
Gegen den Trend schnellen hier die Pleitezahlen bereits deutlich nach oben, werden insgesamt aber vom Rückgang der vielen Kleinverfahren überlagert. So registrierte die Düsseldorfer Sanierungsberatung Falkensteg im vergangenen Jahr mehr als 270 Insolvenzen von Unternehmen mit mehr als zehn Millionen Euro Umsatz – ein Anstieg zum Vorjahr um 47 Prozent.
Dabei kommen „Banken finanziell angeschlagenen Unternehmen momentan oft entgegen, um Insolvenzen und damit Notverkäufe zu vermeiden“, hat der Frankfurter Restrukturierungsexperte Lorenzo Matthaei von der Kanzlei Finkenhof beobachtet. Die Geldgeber wüssten, dass sie im Insolvenzfall im Grunde nur verlieren können. Denn Unternehmensverkäufe seien „generell schwieriger“ geworden. Private-Equity-Investoren hielten sich zurück und die Preise im Distressed-Markt, also für Verkäufe angeschlagener Firmen, „liegen deutlich niedriger als vor Corona“, so Matthaei. Eine Folge: Kredite werden oft nur verlängert, um Zeit zu gewinnen. So einigte sich der angeschlagene Autozulieferer Benteler nach zähen Verhandlungen kürzlich mit rund 30 Gläubigerbanken auf eine Refinanzierung seiner Verbindlichkeiten von insgesamt rund 1,8 Milliarden Euro mit einer Laufzeit bis Ende 2024.
Generell war die Automobilindustrie bereits vor Covid-19 mit „großen transformatorischen Herausforderungen“ wie dem Trend zur Elektromobilität konfrontiert, sagt Kearney-Experte Feldmann. Spätestens wenn Hilfsprogramme wie das erweiterte Kurzarbeitergeld enden, werde der Restrukturierungsdruck hier nochmal deutlich zunehmen. Vor allem Zulieferer im Bereich Verbrennungsmotoren seien gezwungen ihr Geschäftsmodell neu auszurichten, sagt Feldmann. Einige werden dabei aus dem Markt ausscheiden, andere ihre Existenz durch Kooperationen und Übernahmen sichern. Wie hoch der Handlungsdruck inzwischen ist, zeigt der Restructuring Score von 5,68 für die Automobilbranche.
Der Tourismus im Überlebenskampf, Autozulieferer mit Gegenwind, der Handel zweigeteilt - selbst wenn eine größere Pleitewelle so verhindert werden kann, steigen in diesem Jahr die Ausfallrisiken für Gläubiger. So ist zum Jahresanfang das „Unternehmensstabilisierungs- und - restrukturierungsgesetz“ - kurz: StaRUG – in Kraft getreten, mit dem sich angeschlagene Firmen einfacher ohne Insolvenz sanieren können. „Insbesondere hochverschuldete Unternehmen werden das neue Sanierungsgesetz nutzen“, ist Frank Grell, Partner der Wirtschaftskanzlei Latham & Watkins und Vorstandsmitglied der Turnaround Management Association (TMA) Deutschland, überzeugt. „Vor allem bei Finanzierungsinstrumenten wie Schuldscheinen, die sich bisher nur schwer restrukturieren ließen, könne das neue Gesetz helfen. „Etwa wenn es darum geht, Blockadeaktionen und Störmanöver einzelner Gläubiger zu verhindern“, so Grell. Schon Ende 2020 soll das bei Kreditgesprächen mitunter für Bewegung gesorgt haben. „Bei Verhandlungen“, so Grell, „genügte manchmal schon ein Hinweis auf das neue Gesetz, um die Kompromissbereitschaft von Geschäftspartnern zu erhöhen.“
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