Coronafolgen und falsche Prognosen Abellio-Schock zeigt Krise des Bahn-Nahverkehrs

Der Fall Abellio sendet Schockwellen durch die Nahverkehrsbranche. Quelle: imago images

Die Bahnbetreiber im Nahverkehr kämpfen mit den Coronafolgen und falschen Prognosen in der Vergangenheit. Nun droht dem angeschlagenen Anbieter Abellio das endgültige Aus in NRW – und der Politik eine Belastungsprobe.

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In gewisser Weise ist Ronald Lünser eine tragische Figur. Der Chef des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) ist Herr über den größten Nahverkehrsraum in Europa und Impulsgeber für abertausende Pendler im Ruhrgebiet und im Rheinland. Lünser hat derzeit ein Problem: Der Bahnbetreiber Abellio, der im VRR-Gebiet Züge etwa auf der so wichtigen Pendlerstrecke zwischen Aachen und Hamm betreibt, steckt in einer Schutzschirminsolvenz. Angeblich, so sagen viele in der Branche, habe sich Abellio den Verkehrsvertrag nur mit Dumpingpreisen erkämpft.

Dumm nur, dass Lünser bis 2018 ausgerechnet Chef der NRW-Aktivitäten von Abellio war – und damit zumindest mitverantwortlich für den Vertrag, der dem Unternehmen jetzt auf die Füße fällt. Lünser steckt emotional also zwischen den Stühlen. Eigentlich. 

Tragisch wird die Figur Lünser nun vor allem, weil der VRR-Chef seinem alten Arbeitgeber den Stecker zieht. Beide Seiten liegen im Clinch – und ringen um die Zukunft des Nahverkehrs in Nordrhein-Westfalen. Je nach Perspektive wollten sich die Gesellschafter von Abellio nicht in dem Maße an einer Sanierung beteiligen, wie es der VRR fordert. Oder aber: Der VRR stelle sich stur, womöglich auch wegen internen Machtkämpfen.

Heute läuft eine letzte Angebotsfrist aus. Zwar müssen in den nächsten Tagen noch die Gremien entscheiden, aber bewegt sich keine der Seiten, ist das faktische Ende von Abellio in NRW besiegelt. Dann werden der VRR und seine Partner-Verkehrsverbünde im Land fünf Verkehrsverträge von Abellio neu ausschreiben – als Notvergabe ab Februar 2022. Am Abend signalisierte Abellio Kompromissbereitschaft. Man werde bis Mitternacht fristgerecht ein neues Angebot an die Nahverkehrsverbünde in Nordrhein-Westfalen übermitteln, teilte das Unternehmen mit. Die Zusagen würden „umfangreiche Verlustübernahmen und Barauszahlungen in Höhe eines dreistelligen Millionenbetrags“ enthalten. Ob der VRR das Angebot akzeptiert ist noch fraglich.

So oder so:Der Fall Abellio sendet Schockwellen durch die Nahverkehrsbranche. Die Tochtergesellschaft der holländischen Staatsbahn NS ist der größte Nahverkehrsanbieter nach DB Regio, der Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn. Wenn aber schon ein Staatskonzern wie NS keine Zukunft mehr in Deutschland sieht, wie sieht es dann überhaupt aus mit dem Nahverkehr in Deutschland? Der Bund finanziert den Schienentransport jedes Jahr mit Milliarden. Die Länder schreiben die Strecken wie Regionalexpresstrassen und S-Bahnzüge vor Ort aus. Kommt das Erfolgsmodell also ans Ende?

Der Fall Abellio ist auch deshalb interessant, weil er gleich mit einer Reihe von Skurrilitäten aufwartet. Das Unternehmen befindet sich mitten in der Schutzschirminsolvenz. Der Sanierungsexperte Lucas Flöther ist Teil der Geschäftsführung, Insolvenzspezialist Rainer Eckert aus Hannover hat die Rolle des Sachwalters übernommen. Abellio betreibt 52 Zugverbindungen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen. Auf Seiten des VRR ist man zumindest verwundert über die angeblich aggressive Taktik der Abellio-Seite. Der VRR als Hauptbesteller der Abellio-Züge fühle sich erpresst und hinters Licht geführt. Gar eine Unterlassung angeblich falscher Aussagen durch das Abellio-Management soll der VRR auf den Weg gebracht haben. Die Gegenseite sieht eine „robuste Verhandlungsführung“ eher auf Seiten der VRR-Berater Ute Jasper und Georg Streit von der Kanzlei Heuking.

Aber wie ist es überhaupt zu der Eskalation gekommen? Begonnen hat das Dilemma vor einigen Jahren. Abellio betreibt fünf Verkehrsverträge in NRW – im Auftrag der Verkehrsverbünde, etwa des VRR. Doch die Kosten haben sich anders entwickelt als von Abellio prognostiziert. Auch andere Eisenbahnverkehrsunternehmen kämpfen mit gestiegenen Personalkosten. So optierten etwa Lokführer mehrheitlich für bis zu 42 Tage Urlaub im Jahr. Deshalb mussten die Unternehmen neue Lokführer rekrutieren und ausbilden – das ließ die Ausgaben für Personal explodieren. Auch Strafzahlungen in Folge von Verspätungen aufgrund von Baustellen ließ die Kosten anschwellen. Gleichzeitig sank die Zahl der Fahrgäste im Nahverkehr wegen Corona. Abellio geriet in Schieflage – und stellte im Juni dieses Jahr den Schutzschirmantrag.

Strittig ist nun vor allem die Frage, wie viel Geld die Muttergesellschaft NS beitragen will und soll, um Abellio dauerhaft wieder in die Spur zu bringen. Von einem „dreistelligen“ Millionenbetrag spricht die Abellio-Seite. Die Gegenseite um den VRR und der anderen Aufgabenträger hält das für eine Mär: Der Sachwalter habe Beträge mit einbezogen, die keine Basis hätten: So seien etwa Vorkaufsrechte für Werkstätten und Bürgschaften in den Sanierungsbeitrag eingeflossen, die keine Relevanz hätten. Auch bislang bereits geleistete Ausgaben seien in die Berechnung mit eingeflossen. Das sei unlauter, heißt es auf Seite der Aufgabenträger. Tatsache ist aber auch: Es handelt sich um ein freiwilliges Angebot der niederländischen Mutter, wohl vor allem um politisch keine verbrannte Erde zu hinterlassen. Insolvenzrechtlich müssten die Niederländer gar kein Geld zur Verfügung stellen.

Im Verkehrsausschusses des Landtags in NRW soll sich VRR-Chef Lünser dennoch über das Verhalten seines ehemaligen Arbeitgebers empört haben: Er wolle „einen Punkt aus der medialen Berichterstattung aufnehmen und hier ausdrücklich betonen, das Abellio keinen dreistelligen Millionenbetrag zur Kompensation der wirtschaftlichen Schäden angeboten hat“. Lünser spricht von einem zweistelligen Millionenbetrag – und einem Beitrag von 13 Prozent des Gesamtschadens. Die Aufgabenträger um den VRR wollten im Nachgang sogar erwirken, dass der Sachwalter bestimmte Aussagen unterlassen solle, erfuhr die WirtschaftsWoche aus dem Umfeld der streitenden Parteien – ein beispielloser Vorgang.

So oder so dürfte es nun teuer werden. Der VRR und seine Partner-Verkehrsverbünde werden die fünf Verkehrsverträge nun offenbar neu ausschreiben. Bis 31. Januar 2022 gilt noch eine Fortführungsvereinbarung, die garantiert, dass der Nahverkehr in NRW auf den wichtigen Pendelstrecken nicht zusammenbricht. Sowohl VRR als auch Abellio hatten sich bis dahin auf eine Liquiditätssicherung geeinigt. Da man sich für die Zeit danach nicht einig wurde, suchen die Aufgabenträger nun neue Bahnbetreiber. Deutsche Bahn, Transdev und andere Wettbewerber könnten zum Zuge kommen. Die Notvergabe dürfte deutlich mehr kosten als der bisherige Verkehrsvertrag von Abellio.

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Für das Land NRW ist das durchaus heikel. Auf der einen Seite wird der neue Ministerpräsident Hendrik Wüst – bis vor kurzem NRW-Verkehrsminister – den Kostenaufschlag gut erklären müssen. Im nächsten Jahr wird in NRW gewählt. Andererseits will die Politik keinen Präzedenzfall schaffen und sich dem Vorwurf aussetzen, dass sich Abellio auf Kosten der Steuerzahler saniert habe, um in Deutschland weiterhin Geschäft zu machen. „Abellio will Altlasten loswerden und dann weiterfahren. Das hätte Brüssel nicht akzeptiert“, heißt es auf VRR-Seite. Die öffentliche Hand habe so auch „ein Signal in den Markt“ senden wollen. Es wird ein teures Signal.

Mehr zum Thema: Viele Jahre lang galt der Nahverkehr auf der Schiene als Vorzeigemodell – auch im Ausland. Nun mehren sich die Anzeichen, dass die Unternehmen kaum noch klar kommen. Profitieren könnte die Deutsche Bahn.

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