André Kleinbölting soll als Vorbild dienen. Der Ex-Lastwagenfahrer hat mit 43 Jahren einen Neuanfang gewagt und lässt sich an der SBB-Cargo-Akademie in Köln zum Lokführer ausbilden. Nach zehn Monaten Umschulung will er im September seine Prüfung ablegen, für die er sich durch die dicken Regelwerke des deutschen Eisenbahnwesens gearbeitet hat. Signalkunde, unzählige Vorschriften und hohe psychische Anforderungen lauten die Hürden auf dem Weg in den Führerstand.
Motivierte Leute wie der Lkw-Fahrer werden händeringend gesucht, nicht nur beim Marktführer Deutsche Bahn, sondern auch bei ihren Konkurrenzbahnen, die inzwischen zu Dutzenden im deutschen Schienennetz unterwegs sind. Zusammen beschäftigten die Unternehmen rund 28.000 Triebfahrzeugführer, wie der einstige Traumberuf im schönsten Bahnerdeutsch heißt. Das Spezialportal „Schienenjobs.de“ hat für 2017 Anzeigen für mehr als 1500 Stellen bei 247 verschiedenen Arbeitgebern verzeichnet.
Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) schätzt die Zahl der bundesweit unbesetzten Stellen auf 1200. Immer wieder fallen wegen Personalmangels Züge aus, zuletzt beispielsweise auf der DB-Strecke zwischen den hessischen Städten Gießen und Hanau oder bei der nordhessischen Privatbahn Cantus. Für die dünne Personaldecke sei unter anderem der frühere Bahnchef Rüdiger Grube verantwortlich, der den stolzen Beruf zum Auslaufmodell erklärt habe, schimpft GDL-Chef Claus Weselsky. Grube hatte vor zwei Jahren in einem Interview gesagt, dass er spätestens im Jahr 2023 die ersten vollautomatisch fahrenden Züge erwarte.
„Das hat zu einer großen Verunsicherung bei den Interessenten geführt. Wer will schon einen eigentlich überflüssigen Beruf ergreifen?“, fragt der Sprecher der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, Uwe Reitz. Aus seiner Sicht werde noch auf viele Jahre autonomes Fahren nur innerhalb geschlossener Systeme wie beispielsweise im städtischen U-Bahnnetz möglich sein, nicht aber auf dem offenen deutschen Schienennetz. „In den nächsten Jahrzehnten wird es vor allem darum gehen, den Fahrer mit Assistenzsystemen zu unterstützen - nicht zu ersetzen“, meint dazu der Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, Dirk Flege.
Die Deutsche Bahn steuert gegen den Fachkräftemangel und will allein in diesem Jahr rund 1000 neue Lokführer einstellen und 500 Lehrlinge in eine dreijährige Ausbildung schicken. Im vergangenen Jahr waren es 400 Auszubildende und 800 neue Lokführer, wie eine Sprecherin berichtet. Auch in den kommenden Jahren wird der Bedarf hoch bleiben, denn bis 2022 gehen auch noch rund 2200 Lokführer in den Ruhestand. Die GDL beziffert das Durchschnittsalter der DB-Mannschaft auf 50 Jahre.
Die Gewerkschaft EVG kritisiert die aus ihrer Sicht ungenügenden Ausbildungsbemühungen der zahlreichen Eisenbahnunternehmen. Ausnahmen wie die SBB Cargo oder die in Niedersachsen aktive Metronom-Bahn änderten nichts an dem Befund, dass eigentlich nur die Deutsche Bahn ausbilde und die anderen sich dann aus deren Fundus bedienten. Um den einzelnen Beschäftigten kann so schon mal ein heftiges Gezerre entstehen, etwa wenn Strecken neu vergeben werden und das Personal nicht zum neuen Betreiber wechseln will.
Dabei hat vor allem die GDL mit ihrem Kampf für brancheneinheitliche Tarifverträge die Schrecken eines Betriebsübergangs gemildert. Die Gehälter der Lokführer zwischen 38 000 und knapp 50 000 Euro brutto im Jahr werden auch beim neuen Bahnunternehmen gezahlt, Weihnachtsgeld und Zulagen inklusive. Ein dickeres Brett ist der ewige Kampf um die Einhaltung der Dienstpläne, dem die GDL mit detaillierten Planungen für das Jahr, den Monat und schließlich die Woche begegnen will. „Mehr Plan, mehr Leben“ lautete der Slogan zum Tarifabschluss im vergangenen Jahr, der einem Sprecher zufolge in den Bahnbetrieben noch zu langsam umgesetzt werde. Auch EVG-Sprecher Reitz sieht hier weiteren Handlungsbedarf: „Die Kollegen brauchen Sicherheit bei der Planung ihrer Freizeit. Sonst sind die alle schnell wieder weg.“