Deutscher Luftraum für Boeing 737 MAX gesperrt Sollen die Maschinen überhaupt weiterhin fliegen dürfen?

Boeing 737 Max 8 Quelle: dpa

Nach dem Absturz einer Boeing 737 MAX fordern Verbraucherschützer und Politiker, die Maschine aus dem Verkehr zu ziehen. Deutschland sperrt den Luftraum für sie. Doch noch zögern die Behörden in den USA. Denn ein Startverbot allein würde die Sicherheit nicht erhöhen, aber für Probleme an den Flughäfen sorgen.

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Am Tag nach dem bislang größten Flugunfall des Jahres wollte sich Paul Hudson nicht länger zurückhalten. „Das jüngste Desaster der Boeing 737 MAX Desaster sollte Sie dazu zwingen, alle Maschinen dieses Typs am Boden zu halten, bis die Probleme behoben sind“, forderte der Chef des US-Verbraucherschutz-Organisation Flyersrights.org am Montag von der amerikanischen Flugaufsichtsbehörde FAA. „Wenn es noch einen Unfall gibt, sind Sie verantwortlich. Die Welt wird sich an Ihre Entscheidung erinnern.“ Und mehrere Parlamentsabgeordnete stimmten ihm zu.

Die Empörung ist verständlich. Boeing kann sich zu dem Unfall gegenwärtig nur sehr begrenzt äußern. Und während die Maschine in den USA weiterfliegt, hat die europäische Flugaufsicht EASA dem Boeing-Flugzeugmodell 737 MAX 8 ein Flugverbot erteilt. Die Behörde habe entschieden, alle Flüge mit den betroffenen Modellen zu untersagen, teilte die Europäische Agentur für Flugsicherheit am Dienstag mit. Die EASA folgte damit der Entscheidung zahlreicher EU-Staaten, die nach dem Absturz den Luftraum für diesen Flugzeugtyp gesperrt haben. Dazu zählt - neben Großbritannien und Frankreich - auch Deutschland. Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) erklärte: „Sicherheit geht absolut vor. Bis alle Zweifel ausgeräumt sind, habe ich veranlasst, dass der deutsche Luftraum für die Boeing 737 Max ab sofort gesperrt wird.“ In der Nacht auf Mittwoch zogen Neuseeland, Fidschi und das wichtige internationale Luftfahrt-Drehkreuz Vereinigte Arabische Emirate nach und verbannten die Maschinen ebenfalls aus ihrem Luftraum.

Doch leider löst der im Fachjargon „Grounding“ genannte Vorgang das Problem nicht allein. Selbst wenn alles darauf hindeutet, dass wie beim Absturz des gleichen Flugzeugstyps vor ein paar Monaten ein technisches System zur automatischen Flugkontrolle namens MCAS eine Rolle spielte. So gibt es doch ebenso starke Anzeichen, dass auch die Piloten einen Anteil haben dürften. Dazu ist eine Änderung an MCAS in Arbeit. Doch sie ist gerade aus Sicherheitsgründen nicht sofort umzusetzen.

Die Zurückhaltung der US-Behörden dürfte andere Gründe haben als Nachlässigkeit oder gar Rücksicht auf Boeing. Der weltgrößte Flugzeughersteller hätte bei einem Ausfall der 737 MAX große finanzielle Probleme, weil das Zukunftsmodell derzeit eine der wichtigsten Gewinnquellen ist.

Doch klar ist: Bei früheren Problemen haben FAA und die für die Technik zuständige Behörde für Transportsicherheit nicht gezögert, etwa Boeings Dreamliner 787 über Monate aus dem Verkehr zu ziehen. „Wenn die nur einen kleinen Zweifel haben, kennen die kein Pardon“, sagt der Hamburger Flugexperte Heinrich Großbongardt.

Wenn die US-Behörden und ihr europäisches Gegenstück EASA als anders entscheiden als Chinas CAAC, muss das also andere Gründe haben. Denn sicher ist zwei Tage nach dem Crash, dass ein Grounding gerade in den USA für täglich hunderte Flugausfälle und Probleme an den Flughäfen sorgen würde.

Weniger klar sind hingegen die Gründe für den Absturz des Mittelstreckenflugzeugs der Fluggesellschaft Ethiopian Airlines in Äthiopien. Ins Auge springen zwar die Parallelen zu einem Absturz der indonesischen Fluglinie Lion Air vor fünf Monaten. In beiden Fällen beendete die Maschine kurz nach dem Start ohne sichtbaren Grund bei bestem Wetter und ohne erkennbare technische Probleme ihren Steigflug. Dann flog sie in hektischen Auf- und Abwärtsbewegungen und fiel dann fast steil vom Himmel. Bei Lion Air hat der vorläufige Untersuchungsbericht der Behörden festgestellt, dass ein Sicherheitssystem die Maschine in eine gefährliche Lage brachte. Die Piloten konnten darauf nicht richtig reagieren, weil ihnen das System nicht richtig bekannt war. 

Doch in dem Bericht steht auch, dass wichtige Sensoren bereits bei früheren Flügen falsche Daten lieferten. „Die Maschine hätte eigentlich nicht starten dürfen“ sagt Großbongardt. Doch trotzdem ließ sie Lion Air weiterfliegen. Somit kam es zu einer fatalen Kombination. Die Maschine tat nicht, was sie sollte, und die Piloten der Indonesier wussten offenbar im Gegensatz zu ihren Kollegen bei den Flügen zuvor nicht, wie sie reagieren und das MCAS mit seinen gefährlichen Störungen loswerden können.

Piloten sollen nun das Notverfahren lernen – aber reicht das?

Auf diesen Fall hat Boeing inzwischen reagiert. Seit dem Vorfall hat der Hersteller das Pilotenhandbuch entsprechend geändert. Dazu hat er alle Fluglinie angewiesen, dass sie ihr Cockpitpersonal entsprechend trainieren müssen und wie sie das tun können. „Nun könnte das Notverfahren eigentlich jeder beherrschen“, so ein Pilot.

Doch ob und wie die Anweisung von den Airlines umgesetzt wurde, ist nicht klar. So meldet etwa die generell vorsichtige Internetseite Aviation Herald, im von Amateuren abgehörten Funkverkehr der Ethiopian-Maschine sei von „unzuverlässiger Geschwindigkeitsangabe“ die Rede gewesen. Das deutet auf ein Problem mit Sensoren und MCAS hin. Doch es ist auch ein Hinweis, dass die Piloten trotz der neuen Trainingsanweisungen nicht mit dem Fall umgehen konnten. „Wenn das System automatisch die Steuerung ändert, tut es das deutlich sichtbar. Das kann eigentlich keiner übersehen und überhören“, so ein Pilot und mutmaßt vorsichtig: „Es ist nicht unmöglich, dass am Ende so viel zu tun war, dass einer der Kollegen mangels Erfahrung nicht mehr mitkam – und/oder beide das MCAS nicht mehr abgestellt haben.“

Warum die Behörden im Westen trotz der Fakten nun anders reagieren als die in China und Indonesien, ist für Fachleute nicht zu erkennen. „Klar ist jedoch: Ein totales Grounding zum jetzigen Wissensstand ist unüblich“, sagt ein führender Manager einer Fluglinie. Er erklärt das Vorpreschen der asiatischen Ämter mit einer extremen Vorsicht. „Die wollen sich hinterher auf gar keinen Fall einen Fehler oder auch nur eine Nachlässigkeit nachsagen lassen. Das gilt besonders bei einem amerikanischen Produkt angesichts des Handelskonflikts mit den USA.“

Dagegen könnte die Zurückhaltung der westlichen Aufseher gerade daher rühren, dass sie näher an der Ermittlung dran sind. Denn sofort nach dem Crash reisten Vertreter von FAA sowie wohl auch NTSB und EASA nach Äthiopien. „Und sie bekommen erfahrungsgemäß auch von Boeing auch mehr vertrauliche und vorläufige Dinge als die Chinesen“, sagt der Manager.

Dazu gehören auch Informationen zu den geplanten technischen Änderungen. So bekräftigte Boeing gestern Abend erneut, dass die Software für das MCAS-System überarbeitet werde und in ein paar Wochen fertig sei. Dann soll das System auf falsche und gefährliche Daten anders reagieren.

Doch so nötig die Änderung auch ist, die Einführung des Updates geht nicht schneller. Dafür sorgen gerade die hohen Sicherheitsanforderungen der Branche „Eine solche Neuerung wird erst gründlich und in allen Lagen getestet, damit sie nicht wieder in einem Fall für unerwartete Probleme sorgt“, so Großbongardt.

Somit werden wohl erstmal die meisten Boeing 737 MAX weiterfliegen – und alle Beteiligten von den Airlines über Boeing bis zu den Behörden die Berichte ihrer Piloten nach der Landung auf Besonderheiten untersuchen. „Kommt da noch eine Auffälligkeit dazu, kann es sofort zu einem Grounding kommen“, so der Manager einer großen Fluglinie.

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