Die Folgen des Abo-Booms „Treue wird nicht mehr belohnt“

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"Hier wird das Ikea-Prinzip auf den Medienkonsum übertragen"

Findet hier eine Art Verschmelzung von Massenkonsum und Individualisierung statt?
Vielleicht beschreibt der Begriff Plattform das Phänomen gar nicht so schlecht. Denn darin steckt ja auch Idee, dass es sich um Module handelt, die man individuell zusammenstecken kann. Man könnte sagen: Hier wird das Ikea-Prinzip auf den Medienkonsum übertragen. Alle verfügen über dieselben Grundbestandteile, es geht demokratisch und offen zu, jeder kann sich mit seinen individuellen, finanziellen und räumlichen Gegebenheiten sein „eigenes Ding“ zusammenbasteln.

Dass ein Massenmedium derart individuelle Angebote machen kann wie eben vor Jahrzehnten ein Möbelhersteller, setzt natürlich die digitale Welt voraus. Und das konnte eben das alte Fernsehen noch nicht. Aber es zeigt sich, dass sich eine Grundidee nicht geändert hat: dass eine Marke den Anspruch haben kann, möglichst viele Menschen zu erreichen und dass sie diesen Anspruch am besten erfüllen kann, wenn sie auf die Unterschiedlichkeit der Menschen reagiert - und das gelingt Netflix eben ziemlich gut.

Heißt das nicht auch, dass diese Marken sich viel intensiver um den Konsumenten kümmern, ihn individuell und emotional ansprechen müssen?
Ja, wobei eine Marke wie Netflix es da leicht hat: Da muss nicht groß Marktforschung betrieben werden, Netflix weiß genau, wer wann was guckt, und entsprechend wird reagiert, mit Angeboten, die in bestimmten Milieus gerade besonders beliebt sind. Der Konsument wird über den Einsatz von Algorithmen quasi automatisch immer wieder aktuell angesprochen. Außerdem wird ihm das Gefühl vermittelt: Ich kann etwas entdecken. Die Idee der Unerschöpflichkeit spielt hier eine wichtige Rolle: Ich kann immer weiter scrollen, immer weiter klicken, es kommt immer wieder was anderes. Da lebt eine Art von Schlaraffenland-Phantasie neu auf.

Wir erleben heute, dass konfessionelle und politische Bindungen, auch persönliche Beziehungen zu Freunden und Lebenspartnern, nicht mehr so lang halten wie früher. Gilt das auch für die Bindung an Marken? Kostet es Unternehmen mehr Mühe und Anstrengung, diese Bindung aufrechtzuerhalten?
Ja, unbedingt. Wobei Kunden, die zum Konkurrenten übergelaufen sind, heute leichter wiederzugewinnen sind als früher. Generell konzentrieren sich die Unternehmen viel stärker darauf, Kunden zu generieren als zu halten. Nirgendwo kann man das besser sehen als im Mobiltelefon-Markt: Da werden extreme Anstrengungen unternommen, neue Kunden zu rekrutieren. Und wenn man sie schließlich hat, interessiert man sich nicht mehr für sie: Man nimmt es hin, sie wieder zu verlieren, und konzentriert sich lieber auf neue Kunden. Da wird der Kunde nicht für seine Treue mit Bonusprogrammen belohnt, da geht es nur ums Gewinnen von Neukunden. So dass man hier vielleicht besonders krass sehen kann, was inzwischen auch für andere Produktfelder gilt: Dass die Unternehmen durch ihre Art des Marketing das eher kurzlebige Verhältnis zu den Marken befördern.

Markentreue wird von den Unternehmen nicht mehr als Wert propagiert?
Nein. Im Gegenteil: Sie machen dem Kunden regelrecht Lust, immer wieder den Anbieter zu wechseln und etwas Neues auszuprobieren. Der Wandel der Kunden-Marken-Beziehung geht also nicht nur vom Kunden aus. Er ist auch eine Folge der Marketingstrategien. Die Unternehmen befeuern die Kundenflexibilität, indem sie sagen: Wir wollen neue Kunden gewinnen.

Früher blieb man oft ein Leben lang bei bestimmten Marken, vom Auto über den Fernseher bis zum Lieblingscognac. Hat hier nicht ein tiefer Bruch stattgefunden in den Konsumgewohnheiten?
Ja, aber das hat auch damit zu tun, dass man früher über Jahre denselben Autohändler hatte, den man persönlich kannte, und dass man überhaupt viele persönliche Beziehungen zu Läden und Händlern hatte. Außerdem hat der Autohändler spätestens beim dritten Opel sicherlich einen Treuebonus gegeben, nicht in Form eines besseren Preises, aber vielleicht in Form einer kostenlosen Inspektion. Er hat dem Käufer deutlich gemacht: Du bist ein guter Kunde. Und diese Gratifikationskultur ist heute weitgehend erodiert. Nicht nur, weil man nicht mehr so intensive Kundenpflege betreibt, sondern weil die persönlichen Bindungen an einzelne Händler und Verkäufer – nicht zuletzt durch das Online-Shopping – verschwunden sind. Wo allerdings persönliche Beziehungen noch eine Rolle spielen, ist Treue nach wie vor angesagt: Wir wechseln ungern unseren Hausarzt, den Steuerberater oder die Versicherung, wenn einmal im Jahr der Makler vorbei kommt.

Sehr flexibel sind wir nur dann, wenn keine Emotionen im Spiel sind, etwa beim Stromtarif. Beim Fußballverein sieht das ganz anders aus.
Richtig, da gilt: einmal FC, immer FC. Da wird man als Fan auch nicht allein gelassen, da ist man eingebunden in eine Gemeinde. Da entstehen starke Bindungen. Das ist nochmal eine Steigerung des Prinzips „persönlicher Autohändler“.

Den Millennials ist das Benutzen wichtiger als das Besitzen. Mehr über die Folgen des Abo-Booms lesen Sie in der großen Titelgeschichte der WirtschaftsWoche.

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