Zwetschgendatschi. Peter Ramsauer kommt sich manchmal vor wie ein Zwetschgendatschi. Nichts gegen den saftigen Obstfladen aus seiner bayrischen Heimat, aber er könnte sich schon Schöneres vorstellen. Nach Ende der Sommerpause war es mal wieder soweit: Der Bundesverkehrsminister betrat den Bundestag, schlenderte zur Regierungsbank und wollte sich der Arbeit widmen. Aber schon surrten von überall her Abgeordnete auf ihn zu. Nach der langen sitzungsfreien Zeit hatten sie alle ihre Lieblingsprojekte auf den Lippen: Sehr dringend! Sinnvoll! Unaufschiebbar!
So wie zuckriges Backwerk bei hungrigen Wespen, so löst der Milliarden-Etat Ramsauers bei Parlamentariern regelmäßig eine enorme Anziehungskraft aus. Eigentlich mag Ramsauer seinen Job als Minister, wenn da nur nicht diese Datschi-Momente wären.
Dass der Verkehrsminister über den größten Investitionsposten aller Kabinettsmitglieder verfügt, ist so richtig wie irreführend. Von den rund zehn Milliarden Euro, die er zuletzt jährlich in Autobahnen, Schienenstrecken und Kanäle investieren konnte, blieb nach Abzug aller Verpflichtungen für Sanierung und Erhalt zwar noch ein stattliches Sümmchen über. Doch diesen Rest fressen fast vollständig alle derzeit bereits angefangenen Baustellen auf.
Für Verkehrspolitiker ist das der größte anzunehmende Unfall. Nur eines tun Minister, Bürgermeister und Wahlkreisabgeordnete noch lieber, als Autobahnabschnitte einzuweihen und mit feierlicher Miene bunte Bänder zu zerschneiden: Spatenstiche bei Neubauten setzen. Doch die dürfte es in Zukunft kaum noch zu bejubeln geben. Rund 80 Projekte mit einem Bauvolumen in Höhe von etwa 2,6 Milliarden Euro schlummern mittlerweile in den Schubladen des Bundesverkehrsministeriums und warten darauf, hervorgezogen zu werden. Nur das Geld fehlt.
Dabei ist der Etat üppig bestückt. Das Problem besteht eher in der Gewohnheit, wie das Geld ausgegeben wird: für die Erschließung von Landstrichen, die keine vierspurige Autobahn benötigen; für betonierte, nicht für blühende Landschaften – und für regionale und lokale Prestigeprojekte. Dafür ist Geld da, weil die tradierte Verkehrspolitik falsche Anreize setzt und auf föderale Ausgewogenheit Rücksicht nehmen muss.
Auf dem für Sonntagabend anberaumten schwarz-gelben Koalitionsausschuss war auch ein Sonderprogramm für Infrastruktur zur Diskussion vorgesehen. Ramsauer und Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer hatten in den vergangenen Wochen lange und glaubhaft genug mit der Pkw-Maut gedroht. Bis zu eine Milliarde Euro extra könnte es für den Minister geben. Es wäre kaum mehr als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein.
Wie groß die Löcher im Verkehrsetat sind, weiß Wolfgang Stölzle. Er ist Professor für Logistik in St. Gallen und als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats ein wichtiger Ratgeber für den Bundesverkehrsminister. Aus der Schweiz hat er einen nüchtern-distanzierten Blick auf die Situation jenseits der Grenze. Die deutsche Infrastruktur sei schon bald überlastet, lautet Stölzles Diagnose. Sein Therapie-Vorschlag: „Die Politik muss sich auf Engpässe konzentrieren und dort gezielt investieren“ (siehe Seite 26). Sonst droht dem Logistikweltmeister Deutschland bald Stillstand auf Straße und Schiene.
Bislang sind der Asphalt-Manie allerdings kaum Grenzen gesetzt. Alles Denken und Trachten richtet sich auf ein kompliziertes administratives Monstrum namens Bundesverkehrswegeplan (BVWP). Darin steht, was in einem 15-Jahres-Zeitraum an ausgebauten und neuen Verkehrsachsen erstrebenswert wäre. Die aktuelle Wunschliste geht bis 2015 und über dessen Inhalt bestimmt nicht etwa der Bund in nationalem Interesse alleine, der Plan wird geradezu basisdemokratisch mit Projekten aus » » den Ländern und Wahlkreisen angereichert. Hat ein Vorhaben seinen Weg in den BVWP gefunden hat, ist eine wichtige Hürde geschafft. Dann dürfen die Länder mit der Planung beginnen.
Der Plan ist folglich gewaltig dimensioniert: Den Aus- und Neubau von 2500 Straßen- und 80 Schienenprojekten listet die aktuelle Fassung auf, darunter rund 850 Ortsumgehungen. Das meiste davon gilt im Beamtenjargon als „vordringlicher Bedarf“, sollte also am besten sofort begonnen werden. Die Finanzierung dieser Projekte war aber schon bei der Aufstellung des BVWP im Jahr 2001 fraglich und wurde mit den Jahren vollends utopisch. Zur Halbzeitbilanz 2009 war nur der PR-trächtige Neubau halbwegs im Soll. Vor allem das Erweitern von Autobahn-Engpässen hinkt gewaltig hinterher. Noch immer harren Strecken für rund 47 Milliarden Euro ihres Baubeginns, ergab eine Analyse der Grünen. Bezahlbar ist bis 2015 vielleicht noch gut ein Zehntel, weil inzwischen Kosten treibende Lärmschutz- und Umweltauflagen beachtet werden müssen und auch sonst die Baupreise massiv gestiegen sind.
In einem Schreiben an den grünen Bundestagsabgeordneten Sven-Christian Kindler gab Ramsauers Haus zudem ernüchtert zu Protokoll, der „weit über der Prognose liegende Güterverkehrszuwachs“ und „verschobene Erhaltungsinvestitionen in der Vergangenheit“ würden den künftigen Sanierungsbedarf noch deutlich erhöhen. Noch mehr Mittel werden in Zukunft also für Reparaturen an bröckelnden Brücken und Schlaglöchern abgezweigt. Der völlig überzeichnete BVWP hat als Navigationsinstrument viel Vertrauen verloren. Auch er bräuchte einen Haircut – die Reduzierung auf ein realistisches Maß.
Peter Dangelmaier kann nur hoffen, dass ihn dann die Schere verschont. Der 68-Jährige kann die Route der Lkw, die durch seine hessische Heimat rattern, herunterbeten wie andere Leute die Namen ihrer Kinder: „In Butzbach kommen die Brummis runter von der A5, fahren auf die B3 über Bad Neuheim, rasen an Friedberg vorbei bis sie nach Wöllstadt kommen.“ Dort wohnt Dangelmaier. Und an seinem kleinen 6000-Einwohner-Städtchen fahren die Laster dann nicht vorbei, sondern mitten hindurch. Bei der jüngsten Zählung kam er auf bis zu 30 000 Autos am Tag, allein nachts donnern 300 Laster durch die Hauptstraße des Örtchens.
Seit den Achtzigerjahren hoffen die Wöllstädter auf eine Ortsumgehung. Die eingeschlafene Bürgerinitiative hat Dangelmaier Anfang des Jahres wieder wachgerüttelt. Der Pensionär arbeitete früher als Jurist für die Deutsche Bank, mit verwickelten Paragrafen und verschachtelten Gesetzen kennt er sich aus. Aber dieses Politiker-Ping-Pong raubt auch ihm jede Gelassenheit. Der hessische Verkehrsminister Dieter Posch hat den Bypass schon vor zwei Jahren versprochen, doch passiert ist nichts.
Bezahlen muss die Strecke der Bund. Doch das Bundesverkehrsministerium verweist in Briefen auf die schwierige Haushaltslage und die „unzureichende Priorisierung durch das Land Hessen“. Im Klartext: Das Land verbaut die ihm zustehenden Millionen lieber anderswo, etwa am Flughafen Kassel-Calden. „Das“, stöhnt Dangelmaier, „ist schon schwierig zu verstehen“. Die Umgehungsstraße stehe doch im vordringlichen Bedarf. „Aber man fragt sich schon, was das überhaupt heißt.“
Die Wahrheit lautet: nichts. Und so steht Dangelmaier staunend vor einer föderalen Verkehrspolitik, die sich vieles nicht mehr leisten kann – und einiges von dem, was sie sich leistet, nicht braucht: Die Milliarden teuren Verkehrsprojekte Deutsche Einheit im Osten sind noch immer nicht vollständig abgearbeitet. Gleichzeitig quellen Autobahnen im Westen zu Stoßzeiten über und harren auf ihren Ausbau. Güterverkehrstrassen wie die Rheintalbahn oder die Anbindung der Nordsee-Häfen sind kläglich unterdimensioniert. Das prognostizierte Anschwellen der Containerströme werden sie vielleicht nicht mehr fassen können.
Es könnte deshalb helfen, wenn Effizienz nicht nur besungen, sondern auch konsequent praktiziert würde. Das Berliner Verkehrsministerium hat es selbst in der Hand. Im Sommer begannen die Vorarbeiten für den neuen Bundesverkehrswegeplan, der pünktlich 2015 fertig sein und „klare Prioritäten setzen“ soll, verspricht Minister Ramsauer: „Es hilft niemandem, wenn für Projekte ein bestimmter Realisierungszeitraum vorgesehen ist, dies aber in der Praxis unwahrscheinlich ist.“
Der Bund will in Zukunft auch stärker auf Logistikketten und Warenströme achten. Also etwa darauf, wie zügig eine Containerladung aus Singapur vom Hamburger Hafen nach München kommt. Zur Priorisierung könnte auch eine heikle Maßnahme gehören, die derzeit bei den Wasserstraßen ausprobiert wird: Die Trennung der Infrastruktur in ein Kern- und ein Ergänzungsnetz. Hauptachsen und Güterhighways würden dann finanziell klar bevorzugt – zu Lasten von Nebenstrecken und einsamen Pisten.
Sören Bartol überkommt bei diesen Diskussionen ein Déjà-vu. Die geschliffenen Absichtserklärungen hat der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag alle schon einmal gehört – 2002, als er noch jung an Jahren in den Bundestag einzog. Der Verkehrsminister kam aus seiner Partei, hieß Manfred Stolpe und die Ansprüche waren so hoch wie jetzt.
Bartol weiß selbst zu gut, dass es für viele Abgeordnete der größte Erfolg ist, ein Verkehrsprojekt aus ihrem Wahlkreis in Berlin durchzudrücken. Und dass nach Regierungswechseln plötzlich Projekte in der Versenkung verschwinden und andere zur Chefsache werden. „Jeder von uns kann das immer gut begründen“, sagt er, „ich auch. Aber jetzt müssen wir einen Schnitt machen.“
Wie der aussehen könnte, darüber sind sich die meisten Verkehrsexperten einig. Er berührt nicht nur das Wie der Investitionspolitik, sondern auch das Wohin.
Jedes Neu- und Ausbauprojekt wird alle fünf Jahre einer aufwendigen und monatelangen Kosten-Nutzenanalyse unterzogen und in Kennzahlen gegossen, zuletzt geschah das 2010. Doch dass dann streng danach gehandelt würde, war bislang eine Illusion. Denn das hieße, an der Länderquote zu rütteln, der heiligen Kuh der Verkehrspolitik. Sie sichert jedem Bundesland einen Teil des Investitionskuchens von Autobahnen und Bundesstraßen, ganz unabhängig von Kosten und Nutzen. Rund die Hälfte der vorhandenen Milliarden wird so vergeben.
„Auch Länderquoten müssen unseren Kriterien standhalten“, droht Ramsauer. Die gängige Praxis jedenfalls steht für Verkehrsexperten Stölzle „optimierten Investitionen in die Infrastruktur klar entgegen“. Konsequente Priorisierung der wichtigsten Bauvorhaben wird es ohne Änderungen an der Quote nicht geben.
Bliebe noch das Wie. Grüne, Liberale und SPDler wie Bartol denken in einer sehr großen Koalition gerade intensiv über ein Konzept nach, dass der Wirtschaftsrat der CDU entwickelt hat: Eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung (LuFV) für den Straßenbau. Das klingt kompliziert, wäre aber eine mittlere Revolution für die deutsche Infrastrukturpolitik.
Das Modell funktioniert so: Der Bund würde für Unterhalt und Sanierung seiner Straßen den Ländern über fünf Jahre hinweg per Vertrag eine feste Summe überweisen. Im Gegenzug müssen die Länder eine klar definierte Qualität der Verkehrswege garantieren. Sie würden nicht mehr nur für den Bund planen und ausführen wie bisher, sondern in die Mitverantwortung geholt. Eingespartes Geld könnten sie anschließend nach eigenem Gutdünken verwenden – wenn sie die vereinbarte » » Leistung erbracht haben. So entstünden Anreize für wirtschaftlichen Straßenbau.
Vom ADAC bis hin zum BDI und dem Deutschen Verkehrsforum haben sich fast alle namhaften Branchenverbände bereits hinter das Konzept gestellt. Die Baukosten, behauptet der Verkehrsberater Frank Schmid, der es entwickelt hat, könnten langfristig um etwa ein Fünftel sinken.
Schon haben einige Bundesländer ihr ernsthaftes Interesse bekundet. Im Bundesverkehrsministerium werden bereits einzelne Pilotstrecken ausgewählt, auf denen das Modell in den nächsten Jahren ausprobiert werden soll.
Ein Gutachten der Technischen Universität Berlin stellt vor allem der zugrunde liegenden Idee, Mittel aufgabenscharf und über mehrere Jahre hinweg zu verteilen, ein gutes Zeugnis aus. Bisher zwingt das deutsche Haushaltsrecht zur Salamitaktik: Der Haushalt kennt eben nur Jahresausgaben und gibt scheibchenweise. Jahr für Jahr werden Baustellen also nur Stück für Stück finanziert, was die Fertigstellung unnötig in die Länge zieht – und quälende Staus zur Folge hat.
Doch solange das neue Konzept noch nicht Wirklichkeit ist, funktionieren die alten Reflexe bestens. Vor wenigen Wochen kursierte in der Hauptstadt der Entwurf für den neuen Investitionsrahmenplan des Bundes. Der steckte Vorhaben für Vorhaben das ab, was in den letzten fünf Jahren des geltenden BVWP noch möglich sein wird. Nordrhein-Westfalen etwa suchte dort vergebens den Rhein-Ruhr-Express für den Nahverkehr, Baden-Württemberg eine Bahnstrecke von Ulm nach Lindau. Der Panik folgten Protestnoten gen Berlin. Umgehend kam die Beschwichtigung aus dem Verkehrsministerium: Keine Bange, politisch sei noch gar nichts abgestimmt.
Da war es wieder, das Gerangel um Kilometer und Strecken. Selbst Parteischwergewichte können davon nur schwer lassen und neigen dann zur Janusköpfigkeit. Selbst aus dem eigenen Fraktionsvorstand bekommt Ramsauer dann Briefe von Parteifreunden, die sonst für strikte Haushaltsdisziplin plädieren. In ihrer Eigenschaft als Wahlkreisabgeordnete bitten sie aber dann doch mit freundlichen Grüßen um Finanzierung ihrer Ortsumgehung.
Ramsauer mag seinen Job, sehr sogar, wenn da nicht diese Momente wären. Sein Leben als Zwetschgendatschi. »
850 Orts- umgehungen stehen auf dem Wunschzettel
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