Folge der Pandemie Wirtschaftsfaktor Geschäftsreisen bricht dramatisch ein

Viele Unternehmen setzen seit Beginn der Pandemie verstärkt auf Video-Konferenzen Quelle: dpa

Viele Unternehmen setzen seit Beginn der Pandemie verstärkt auf Video-Konferenzen - und sprechen bereits von einer „neuen Normalität“. Für Fluglinien, Hotels und Messeveranstalter wäre dies eine Katastrophe.

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Brandon Contreras war früher fast ständig unterwegs. Als Kundenbetreuer einer kalifornischen Technologie-Firma pflegt er engen Kontakt zu anderen Unternehmen. Seine Ansprechpartner sind über ganz Nordamerika verteilt. Nach wie vor sind regelmäßige Gespräche für ihn äußerst wichtig. Doch anstatt Flugzeuge zu besteigen, setzt er sich seit fast neun Monaten einfach zu Hause vor den Computer und wählt sich in virtuelle Meetings ein - ähnlich wie Tausende andere Geschäftsleute.

In manchen Fällen mag eine Video-Konferenz die persönliche Begegnung nicht ersetzen können. Doch in vielen Fällen scheint die pandemiebedingte Notlösung gut zu funktionieren. Contreras geht davon aus, dass er bis Mitte 2021 keine Dienstreisen machen wird - und auch darüber hinaus wird er womöglich weniger unterwegs sein als früher. Vielleicht werde diese neue Form des Arbeitens dann einfach als „neue Normalität“ akzeptiert, sagt der Kalifornier. Er habe schließlich alle Mittel und Geräte, um seinen Job auch von zu Hause aus zu erledigen.

Sollte sich die Prognose bestätigen, müssten gleich mehrere Branchen, die bisher stark auf Geschäftsreisende wie Contreras ausgerichtet waren, erhebliche Einbußen befürchten. Laut Zahlen der Organisation World Travel and Tourism Council sorgten Dienstreisen 2019 noch für 21 Prozent des Gesamtumsatzes von 8,9 Billionen Dollar (7,5 Billionen Euro), der weltweit mit Reisen und Tourismus erzielt wurde. Die Hotels der USA erwirtschafteten 2019 nach Angaben des Marktdaten-Spezialisten Kalibri Labs etwa die Hälfte ihrer Umsätze mit Geschäftsreisenden.

Der Chef der US-Fluggesellschaft Delta Air Lines, Ed Bastian, geht nach eigenen Angaben davon aus, dass die Zahl der Geschäftsreisen in einer „neuen Normalität“ 10 bis 20 Prozent niedriger als vor der Pandemie liegen könnte. Zuletzt sei der Umsatz seines Unternehmens in diesem Bereich um 85 Prozent zurückgegangen, sagte er der Nachrichtenagentur AP. Auch Southwest Airlines rechnet mit längerfristigen Effekten. Er sei zuversichtlich, dass sich die Lage erholen und das Niveau von 2019 sogar überschritten werde, sagte Geschäftsführer Gary Kelly. „Ich weiß nur nicht, wann.“

Die in Dubai ansässige MBC Group, die 18 Fernsehsender betreibt, will ihre Mitarbeiter auch nach Ende der Pandemie deutlich seltener auf Reisen schicken. „Es ist uns gelungen, auch aus der Ferne Projekte umzusetzen und Geschäfte sehr erfolgreich auszuhandeln“, sagt der MBC-Sprecher Mazen Hayek. Der Onlinehändler Amazon, der seine Mitarbeiter im März dazu aufrief, auf Dienstreisen zu verzichten, konnte in diesem Jahr bereits fast eine Milliarde Dollar an Reisekosten einsparen.

Der Luftfahrt-Experte Peter Belobaba vom Massachusetts Institute of Technology betont, dass der Rückgang beim Reiseverkehr nicht ausschließlich auf Angst vor Ansteckung zurückzuführen sei, sondern auch mit der insgesamt schwachen Wirtschaftslage zu tun habe. So habe etwa ExxonMobil bereits im Februar wegen global sinkender Nachfrage nach Erdöl bei den eigenen Geschäftsreisen gekürzt. Hinzu kämen die von vielen Staaten verhängten Einreisebeschränkungen.



Wie umständlich eine persönliche Teilnahme an Veranstaltungen derzeit sein kann, zeigte sich im Oktober am Auftritt des Polestar-Chefs Thomas Ingenlath auf einer Automesse in Peking. Nachdem der Manager des Volvo-Ablegers in China gelandet war, musste er sich zunächst für 14 Tage in Quarantäne begeben. Aus Umweltgründen habe das Unternehmen schon immer versucht, die Zahl der Dienstreisen zu begrenzen, aber die Quarantäne-Regelungen hätten das Reisen noch weiter eingeschränkt, sagt Kiki Liu, Kommunikationschefin des Elektroauto-Herstellers.

Die großen Profiteure dieser Entwicklung sind die Anbieter von Telekonferenz-Diensten. Zu den bekanntesten zählt das kalifornische Unternehmen Zoom. Ende Juli hatte dieses laut eigenen Angaben 370.200 Geschäftskunden mit mindestens zehn Mitarbeitern - mehr als dreimal so viele wie noch Ende April.

Nicht in allen Bereichen seien derartige Dienste aber tatsächlich eine adäquate Alternative, sagt Sam Clarke von der California State University. Manche Veranstaltungen - wie etwa die großen Fachmessen - würden daher vermutlich auch in Zukunft noch sehr wichtig bleiben. Gleichzeitig könnten sich ganz neue Formen des dienstlichen Reisens entwickeln. Denn durch die Lockdowns hätten die Menschen gelernt, sich an verschiedene Arbeitsumgebungen anzupassen, betont Clarke.


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Hotels, Fluggesellschaften und sogar Kreuzfahrtunternehmen müssten nach Ansicht des Experten ihre Konnektivität verbessern, um künftig den Bedürfnissen von Geschäftsreisenden gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang verweist er etwa auf neue, flexible Angebote von Hotels, mit abendlichem Check-out. Denkbar sei auch, dass nach der Pandemie nicht mehr einige Top-Manager sehr viel unterwegs sein müssten, sondern stattdessen große Teile des Personals an verschiedensten Orten im Homeoffice tätig seien und einmal im Jahr in die Zentrale zu reisen hätten, sagt Clarke.

Einige Unternehmen sind schon jetzt dabei, ihre Arbeitsweisen anzupassen. Cynthia Kay and Co aus Grand Rapids im US-Staat Michigan produziert Videos für Kunden wie etwa Siemens. Vor der Pandemie reisten die Mitarbeiter dafür quer durchs Land. Seit März würden dagegen oft iPads und andere Geräte an die jeweiligen Kunden geschickt, sodass diese unter Anleitung eigene Aufnahmen tätigen könnten, sagt die Unternehmenschefin Cynthia Kay. Während die Reisekosten dadurch um 75 Prozent gesunken seien, liege der Umsatzrückgang nur bei 15 bis 20 Prozent.

Trotzdem versucht Kay inzwischen, auch wieder Termine vor Ort wahrzunehmen, sofern es ihr ohne größeres Risiko möglich erscheint - seit Oktober ist sie gelegentlich wieder auf Reisen. Für viele Menschen werde die neue Art des Arbeitens wohl dauerhaft funktionieren, sagt Kay. Aber Video-Konferenzen könnten eben nicht die besondere Verbindung herstellen, die manchmal entstehe, wenn sich Personen tatsächlich im selben Raum befänden.

Mehr zum Thema: Trotz diverser Restriktionen und Hygieneregeln steigt die Zahl der Dienstreisen langsam wieder an. Was in den wichtigsten Ländern gilt.

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