Nach gleich drei Lecks in nur kurzer Zeit an den Ostsee-Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 wird ein Sabotageakt nicht ausgeschlossen. In Polen, Russland und Dänemark wird ein gezielter Anschlag auf die europäische Gasinfrastruktur als Ursache für die als beispiellos geltenden Schäden an beiden Pipelines für denkbar gehalten. Auch aus Sicht deutscher Sicherheitskreise spricht vieles für Sabotage. Sollte es sich um einen Anschlag handeln, würde angesichts des Aufwands nur ein staatlicher Akteur infrage kommen, hieß es am Dienstag. Zwar wird aktuell durch keine der Pipelines Gas geliefert, der Gaspreis stieg angesichts der Verunsicherung aber. Am Montag war in den Leitungen von Russland nach Deutschland ein plötzlicher Druckabfall beobachtet worden.
„Wir kennen heute noch nicht die Details dessen, was da passiert ist, aber wir sehen deutlich, dass ein Sabotageakt vorliegt“, sagte der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki im polnischen Goleniow bei Stettin. Aus Sicht der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen ist es schwer vorstellbar, dass es sich um Zufall handele. In Moskau will die Regierung einem Sprecher zufolge keine Variante ausschließen. Auch der Betreiber von Nord Stream 2 ist skeptisch: Dem Sprecher Ulrich Lissek zufolge sind die Leitungen so verlegt, dass eine gleichzeitige Beschädigung mehrerer Leitungen etwa durch einen einzelnen Schiffsunfall höchst unwahrscheinlich ist.
Auch die Europäische Union hält Sabotage als Ursache für die Lecks an den Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 für wahrscheinlich und hat mit Gegenmaßnahmen gedroht. „Alle verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass diese Lecks das Ergebnis einer vorsätzlichen Handlung sind“, erklärte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Mittwoch im Namen der 27 Mitgliedstaaten. Jede vorsätzliche Störung der europäischen Energieinfrastruktur sei völlig inakzeptabel werde „mit einer robusten und gemeinsamen Reaktion beantwortet werden“.
Borrell nannte in der Erklärung keinen Verdacht, wer hinter einem möglichen Sabotageakt stecken könnte. Der Spanier sagte jedoch, dass man über die Schäden an den Pipelines sehr besorgt sei. „Diese Vorfälle sind kein Zufall und gehen uns alle an.“ Man werde jede Untersuchung unterstützen, die darauf abziele, Klarheit über die Vorgänge zu erlangen. Zudem werde man Schritte unternehmen, um die Energiesicherheit robuster zu machen.
Die Vereinigten Staaten haben einem Medienbericht zufolge die Bundesregierung bereits vor Wochen vor möglichen Anschlägen auf Gaspipelines in der Ostsee gewarnt. Wie der „Spiegel“ berichtet, ging ein entsprechender Hinweis des US-Geheimdienstes CIA im Sommer in Berlin ein. Ein Regierungssprecher teilte dem Magazin zufolge mit, man nehme zu „Angelegenheiten, die etwaige nachrichtendienstliche Erkenntnisse oder Tätigkeiten der Nachrichtendienste betreffen, grundsätzlich nicht öffentlich Stellung“.
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Messstationen in Schweden und Dänemark haben einem Medienbericht zufolge vor dem Entstehen der Nord-Stream-Gaslecks kräftige Detonationen unter Wasser verzeichnet. Es bestehe kein Zweifel daran, dass es sich um Sprengungen oder Explosionen handele, sagte der Seismologe Björn Lund vom Schwedischen Seismologischen Netzwerk (SNSN) dem schwedischen Rundfunksender SVT.
Insgesamt drei Lecks waren – nach einem ersten Druckabfall in der Nacht auf Montag – sowohl in einer der Röhren von Nord Stream 2 wie auch in beiden Röhren der Nord-Stream-1-Pipeline entdeckt worden. Dänische Behörden lokalisierten diese in der Ostsee vor der dänischen Insel Bornholm, teils in schwedischen Gewässern. Wegen der Gefahr für die Schifffahrt richteten dänische Behörden Sperrzonen ein.
Nach Angaben der dänischen Energiebehörde können Schiffe den Auftrieb verlieren, wenn sie in das Gebiet hineinfahren. Zudem bestehe möglicherweise eine Entzündungsgefahr. Außerhalb der Zone gebe es keine Gefahr, auch nicht für die Einwohner von Bornholm und der kleinen Nachbarinsel Christiansø.
In den betroffenen Ländern wird an Lösungen gearbeitet. Sowohl in Schweden als auch in Dänemark wurden Krisenstäbe einberufen. Als man von den Lecks erfahren habe, sei das Krisenmanagement zusammengerufen worden, an dem mehrere Ministerien und Behörden beteiligt seien, sagte die schwedische Außenministerin Ann Linde der Zeitung „Aftonbladet“. Der dänische Außenminister Jeppe Kofod habe sie kontaktiert, virtuelle Treffen seien am Abend geplant.
Das Bundesinnenministerium nimmt die Beschädigungen an den Pipelines nach Aussage eines Sprechers sehr ernst. „Wir sind hierzu innerhalb der Bundesregierung, mit den deutschen Sicherheitsbehörden und mit unseren dänischen und schwedischen Partnern im engen Kontakt.“ Wirtschaftsminister Robert Habeck äußerte sich zurückhaltend zur Ursache. Eine Spekulation darüber verbiete sich so lange, wie die Aufklärung nicht erfolgt sei, sagte der Grünen-Politiker.
Auch die Nato hat ein Auge auf die Lage geworfen. „Das ist etwas, das wir sehr genau beobachten“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Man sei in engem Kontakt mit den Nato-Alliierten sowie Schweden, das Nato-Mitglied werden will. Grundsätzlich habe es Auswirkungen auf alle, dass Russland Energie als Waffe in dem Ukraine-Konflikt nutze, sagte Stoltenberg.
In Deutschland sieht das für die hiesigen Pipeline-Abschnitte zuständige Bergamt Stralsund zumindest keine unmittelbare Gefahr einer Lageverschärfung: „Eine weitere Schadensausbreitung dürfte aus technischer Sicht - nach gegenwärtigem Stand - unwahrscheinlich sein“, teilte die Behörde mit. Der Druck in den Leitungen habe sich entsprechend der Wassertiefe auf einem niedrigen Niveau eingestellt.
Nord Stream: Wie es zu den beiden Ostsee-Gasleitungen kam
In Anwesenheit von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Russlands Präsident Wladimir Putin unterzeichnet ein Konsortium großer Energiekonzerne eine Vereinbarung zum Bau von Unterwasser-Leitungen durch die Ostsee. Polen, die Ukraine und Weißrussland sehen in den Plänen eine Konkurrenz zu ihren Landleitungen und fürchten um Einnahmen aus Transitgebühren.
Der Bau des ersten von zwei Strängen der Pipeline Nord Stream 1 auf einer Länge von 1224 Kilometern beginnt. Jede der zwei Leitungen besteht aus jeweils 100.000 Einzelrohren, die mit Hilfe mehrerer Schiffe in der Ostsee verlegt werden.
Im November 2011 strömt erstes Gas durch die erste Leitung von Nord Stream 1 vom russischen Wyborg bis ins deutsche Lubmin bei Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern). Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Russlands Präsident Dmitri Medwedew nehmen die Trasse symbolisch in Betrieb. Umweltverbände warnen vor nicht absehbaren Folgen für Flora und Fauna in der Ostsee.
Im Oktober 2012 geht der zweite Strang von Nord Stream 1 an den Start. Das insgesamt 7,4 Milliarden Euro teure Projekt kann fortan eine Menge von 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr transportieren.
Der Gesellschaftervertrag für das Projekt Nord Stream 2 wird unterzeichnet. Einziger Anteilseigner ist formal Russlands Energiekonzern Gazprom. Dazu kommen mehrere „Unterstützer“ - darunter auch deutsche Energieunternehmen.
Der Bau der Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 beginnt. Die Gasleitung soll weitgehend parallel zu Nord Stream 1 verlaufen und noch einmal soviel Gas transportieren können. In zwei Strängen sollen wieder jeweils 100.000 Einzelrohre verlegt werden. Ursprünglich geplanter Start der Pipeline ist Ende 2019, der sich jedoch mehrfach wegen fehlender Baugenehmigungen verzögert.
Im Dezember 2019 stoppen die Bauarbeiten abrupt. Die beiden Schweizer Verlegeschiffe werden wegen Sanktionsdrohungen der USA abgezogen. Die USA argumentieren, dass sich Deutschland mit der Pipeline in Abhängigkeit von Moskau begeben würde. Russland wirft den USA vor, sie würden eigene wirtschaftliche Interessen verfolgen und ihr Flüssiggas verkaufen wollen. Russische Schiffe übernehmen die Arbeiten.
Im September 2021 ist Nord Stream 2 nach Angaben von Gazprom fertiggestellt, aber noch nicht in Betrieb. Die Baukosten belaufen sich auf über zehn Milliarden Euro.
Angesichts eines drohenden Kriegs in der Ukraine legt die deutsche Bundesregierung Nord Stream 2 auf Eis. Offizieller Grund ist, dass die Freigabe durch die zuständigen Behörden fehlt, also die Pipeline nicht zertifiziert ist. Kurz danach beginnt Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine.
Im Juli 2022 wird der Gasfluss in Nord Stream 1 mit Hinweis auf Wartungsarbeiten unterbrochen.
Ende August 2022 stellt der russische Staatskonzern Gazprom den Gasfluss vollständig ein.
Ende September 2022 werden drei der vier Versorgungsstränge bei einem Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines durch Sprengungen zerstört. Der vierte Strang wurde stillgelegt. Aktuell sind alle Leitungen außer Betrieb (Stand: 26. Juli 2023).
Neben den Auswirkungen auf die Schifffahrt waren die Folgen auch an den Energiemärkten zu spüren. Der Preis für europäisches Erdgas ist deutlich gestiegen und hat die Marke von 200 Euro überschritten. Am späten Dienstagnachmittag stieg der Terminkontrakt TTF für niederländisches Erdgas bis auf rund 207 Euro je Megawattstunde. Das waren etwa 19 Prozent mehr als am Vortag.
Deutsche und dänische Behörden wiesen darauf hin, dass die Vorfälle keine Auswirkung auf die Gasversorgung hätten, da die Leitungen zuletzt nicht für den Gasimport benutzt worden seien. Während über die Pipeline Nord Stream 1 bis vor einigen Wochen noch Gas aus Russland nach Deutschland geflossen war - wenn auch mit gedrosselter Kapazität - war die Genehmigung für den Import über Nord Stream 2 kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine von der Bundesregierung auf Eis gelegt worden. Danach hatte sie wegen des Krieges eine Nutzung ausgeschlossen.
Die Bundesnetzagentur verwies darauf, dass über Nord Stream 1 seit Anfang September kein Gas mehr geliefert werde, während die Befüllung der Speicher kontinuierlich weiter gehe. „Die Ereignisse ändern die Versorgungssituation nicht“, sagte ein Sprecher der Behörde.
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und der Bund für Umwelt und Naturschutz sehen kurzfristig wenig Umweltrisiken. DUH-Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner forderte, das noch vorhandene Erdgas möglichst schnell abzupumpen, um eine Reparatur zu ermöglichen. Hierzu müsse man mit russischen Stellen sprechen.
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