Gemeinwohl Was dient der Allgemeinheit? Und wer?

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3. Von der Vokabel über die Sprache zum Dialog bringen

Gemeinwohl gehört zu jenen Begriffen, die in der Kulturgeschichte der Menschheit immer wieder für einen Schlacht- oder auch Weckruf herbeigezogen wurden, um ans „Ganze“ zu appellieren. Der Begriff kann andererseits ebenso völlig suspendiert werden. Man denke nur an das Gesellschaftsbild, welches der Stakeholder-Ansatz in der Betriebswirtschaftslehre transportiert: Sämtliche Beziehungen zwischen Unternehmen und ihrem Umfeld werden auf Einzelbeziehungen reduziert, in denen jeweils entsprechende Ansprüche regieren. Perfekt lassen sich also mit dem Gemeinwohl politische Energien mobilisieren und/ oder eben auch Partikularinteressen verschleiern.

Nur: Gute Begriffe halten auch dies über die Zeitläufte hinweg aus und erneuern sich von innen heraus. Das Gemeinwohl scheint so ein Stehaufmännchen zu sein, dass sich hin und wieder nicht nur in Vereinnahmungsgefahr befindet, sondern auch an Beschreibungsnotstand leidet. Dies gilt insbesondere, wenn es zur Leerformel verkommt oder eben: zur Vokabel degradiert wird.

Diese Unternehmen halten die Deutschen für besonders wichtig fürs Gemeinwohl

Den Unterschied zwischen Vokabel und Sprache artikuliert der Schriftsteller Martin Walser messerscharf:  Sprache wird für ihn „ immer dann zum Vokabular, wenn sie positiv werden soll… Sprache ist erfahrbar. Vokabular verstehbar… Sprache muss nicht recht haben. Vokabular hat recht“ (2004, S. 72, 89). Der GemeinwohlAtlas muss ebenfalls nicht „recht haben“, er soll unsere gesellschaftliche Wirklichkeit erfahrbarer machen. Die immerwährenden Messprobleme jeder Umfrage werden also etwas relativiert, wenn man im GemeinwohlAtlas mehr noch die darin enthaltene Anregung zur Artikulation und Reflexion eigener und sozialer Erfahrung nach vorn rückt. Wieder mit Kant: Denn was sind Anschauungen ohne Begriffe und Gedanken ohne Inhalte?

Entfremdung beginnt dort, wo das Gespräch aufhört, auf den Austausch von Vokabeln reduziert wird oder in gegenseitigen Vorurteilen und Verurteilungen gedacht und gefühlt wird. Miteinander im Gespräch sein bedeutet auch, gemeinsame Erfahrungen zu machen. Und dies ist auch der Kern des Ganzen: Gemeinwohl kann man nur erleben, nicht definieren.

Insofern ist der GemeinwohlAtlas auch ein Resonanzraum, ein Quasi-Objekt eigener Art, welches Bezugspunkte für den Diskurs bietet. Der GemeinwohlAtlas schafft eine Öffentlichkeit für das Gemeinwohl.

Klar, zunächst sieht man erst einmal nackte Zahlenwerte, die ihren Sinn erst durch Interpretation preisgeben und damit eine „Wahrheit“ zutage fördern bzw. ins Leben rufen. Falsch wäre es, unmittelbar Gründen und Ursachen zu suchen. Diese wird man einfach nicht finden, wenn man nicht erst einmal – und dies ist keineswegs therapeutisch gemeint – auf seine eigene, innere Stimme achtet und für sich selbst herausfindet, was einem an diesem Thema wichtig ist.

Dem Gemeinwohl empirisch auf die Spur kommen zu wollen, ist zudem vom Anliegen her eine zutiefst demokratische Angelegenheit. Wer als die Bevölkerung selbst sollte darüber Auskunft geben können? Es ist der Souverän selbst, der Legitimation und Stimme besitzt, über die gesellschaftlichen Verhältnisse zu sprechen.

Der GemeinwohlAtlas ist ein Spiegel, den die Gesellschaft ihren Organisationen vorhält. Ob sich diese in dem Bild wiedererkennen oder nicht, ist eine Sache. Eine andere betrifft die Gesellschaft selbst, die in den Atlas ihre Einstellungen hineinprojiziert. Der GemeinwohlAtlas ist als auch Ausdruck eines kollektiven Gefühlshaushalts, in dem sich eine innere Ordnung oder auch kulturelle Selbstvergewisserung entfaltet. Der GemeinwohlAtlas verdichtet öffentliche Meinung und hebt sie darüber in den Stand einer veröffentlichten Meinung. Das ist keine metaphysische Übung, sondern eine praktische kollektive Selbstreflexion.

Auf die Frage Cui bono? können wir jetzt antworten: Im besten Fall nützt der GemeinwohlAtlas uns allen, jedem Einzelnen in seiner eigenen Standortbestimmung und jenen Organisationen, die sich über ihre Rolle und Wirkung in der Gesellschaft verständigen und neue Brücken bauen möchten.

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