Es ist das Horrorszenario für jeden Flugpassagier: Der Co-Pilot des Germanwings-Flugs 4U9525 verschanzte sich nach ersten Ermittlungserkenntnissen im Cockpit, um die Maschine zum Absturz zu bringen. Sein Kapitän konnte die Kontrolle über den A320 nicht zurückgewinnen, niemand den Absturz verhindern.
Auch wenn die Tragödie des Germanwings-Flugs einzigartig zu sein scheint: Flugexperten machen sich schon seit Jahren Gedanken, wie sich ein Passagierjet aus einer solchen Notlage befreien ließe. Vor allem nach den Flugzeug-Entführungen am 11. September 2001 kam die Diskussion auf, wer der größere Risikofaktor an Bord ist: die Maschine – oder der Mensch?
Bei Flugzeugentführungen ist die Antwort klar: Sämtliche Passagiere sind den Kidnappern praktisch hilflos ausgeliefert. Dabei sind Maschinen längst per Funk mit Bodenstationen vernetzt, sie orten sich mit Hilfe von GPS-Signalen – und sogar die Triebwerke funken ihren Zustand permanent an eine Leitstelle des Herstellers. Warum also im Notfall nicht gleich die Maschine per Funk vom Boden aus steuern?
Kontrolle vom Boden
Dass dies keineswegs eine absurde Idee ist, glauben etwa die Experten eines Forschungsprojekts der EU namens Safe Automatic Flight Back and Landing of Aircraft, kurz: Sofia. Unter diesem Titel untersuchte ein Konsortium von Unternehmen und Luftfahrtorganisationen, darunter auch die Deutsche Flugsicherung, wie sich entführte Maschinen retten ließen.
Aus dem Abschlussbericht des Projekts aus dem Jahr 2009 ist ersichtlich, wie sich die Experten das vorstellen: Gerät ein Flugzeug in die Kontrolle eines Terroristen, dann ist das Ziel, das Flugzeug so schnell wie möglich sicher auf einem Flughafen zu landen. Dazu soll eine Ground Security Decision Station eingerichtet werden – eine Bodenstation, die per Funk die Notlandung des Fliegers auslöst.
Die Fakten zum Germanwings-Absturz
Der Airbus A320 ist am Dienstag um 10.01 Uhr mit 150 Menschen an Bord in Barcelona gestartet. Kurz nach dem Erreichen der regulären Reiseflughöhe von 38.000 Fuß (11,5 Kilometer) ging die Maschine ohne Hinweis an die französische Flugkontrolle oder ein Notsignal in einen schnellen Sinkflug über. Das Flugzeug zerschellte in den französischen Alpen. Die Maschine flog bis zum Aufprall, ohne dass es eine Explosion gab, wie die französische Untersuchungsbehörde BEA mitteilte.
An Bord der Maschine waren 150 Menschen, darunter nach jüngsten Informationen 72 Deutsche und 50 Spanier. Weitere Opfer stammen nach Angaben von Regierungen und Germanwings offenbar aus den USA, Großbritannien, Kasachstan, Argentinien, Australien, Kolumbien, Mexiko, Venezuela, Japan, den Niederlanden, Dänemark, Belgien und Israel.
Die Germanwings-Maschine verunglückte in den französischen Alpen nahe der kleinen Ortschaft Seyne-les-Alpes. Die Bergung der Wrackteile ist schwierig. Das Gelände an der Unglücksstelle ist zerklüftet und nur schwer zugänglich. Weil die Maschine mit hoher Geschwindigkeit auftraf, sind die Trümmerteile sehr klein und weit verstreut.
Die Bergung der Opfer wurde am 31. März abgeschlossen. Das Kriminalinstitut der französischen Gendarmerie erklärte, die eigentliche Identifizierung, also die Zuordnung zu den Vergleichsdaten der Angehörigen, könne zwei bis vier Monate dauern.
Die Ermittler haben bereits auswertbare Daten aus dem ersten Flugschreiber, dem Stimmrekorder, sichergestellt und ausgewertet. Laut der französischen Staatsanwaltschaft war zum Zeitpunkt des Absturzes nur der Co-Pilot im Cockpit. Der Stimmrekorder hat bis zuletzt Atemgeräusche im Cockpit aufgezeichnet, der Co-Pilot war also am Leben. In den letzten Minuten, bevor der A320 an einer Felswand zerschellte, zeichnete der Rekorder auf, wie der ausgesperrte Kapitän und die Crew von außen gegen die Cockpit-Tür hämmern. Die Ermittler gehen daher davon aus, dass der Co-Pilot die Maschine absichtlich zum Absturz brachte.
Der zweite Flugschreiber, der detaillierte Flugdaten aufzeichnet, wurde bislang nicht gefunden.
Der Mittelstreckenflieger A320 hatte seinen Jungfernflug 1987 und wurde ein Jahr später erstmals von Airbus an Kunden ausgeliefert. Seither hat er sich in verschiedenen Varianten zum meistverkauften Passagierjet von Airbus entwickelt. Bis Ende Februar hatte der Hersteller von seiner absatzstärksten Modellfamilie knapp 6500 Maschinen an die Kunden überstellt.
Die Unglücksmaschine war seit mehr als 24 Jahren im Einsatz, verfügte laut Auskunft der Lufthansa jedoch über neueste Technik und habe alle Sicherheitsanforderungen erfüllt. Noch einen Tag vor der Katastrophe sei der Flieger einem Routinecheck unterzogen worden.
Der Kapitän des abgestürzten Flugzeugs galt als erfahren. Er hatte seit mehr als zehn Jahren für Germanwings und Lufthansa gearbeitet. Auf dem Modell Airbus hatte er mehr als 6000 Flugstunden absolviert.
Zu den Geschehnissen im Cockpit der Germanwings-Maschine sagte der Lufthansa-Chef Carsten Spohr: „Es gab ein technisches Briefing zum weiteren Flugverlauf. Dann hat der Pilot dem Co-Piloten das Steuer überlassen.“ Zum Verlassen des Cockpits durch den Kapitän sagte Spohr: „Der Kollege (Pilot) hat vorbildlich gehandelt, er hat das Cockpit verlassen, als die Reiseflughöhe erreicht war.“
Der Co-Pilot der Unglücksmaschine war seit 2013 bei der Lufthansa-Tochter beschäftigt. Zuvor hatte er seit etlichen Jahren für den Konzern gearbeitet, auch als Flugbegleiter. Vor sechs Jahren gab es eine mehrmonatige Unterbrechung der Pilotenausbildung, danach wurde die Eignung des Mannes nach allen Standards überprüft. „Er war 100 Prozent flugtauglich. Ohne jede Auffälligkeit“, sagte Spohr.
Ermittler durchsuchten auf Bitte der französischen Justiz zwei Wohnungen des Co-Piloten. Dort wurde eine zerrissene Krankschreibung gefunden, die auch den Tag des Absturzes umfasste. Der 27-Jährige war vor mehreren Jahren - vor Erlangung des Pilotenscheines - über einen längeren Zeitraum wegen Depressionen und Selbstmordgefährdung in psychotherapeutischer Behandlung.
Quellen: dpa, reuters, sha, jre
Durch das Signal vom Boden werden sämtliche Steuergeräte im Cockpit sind außer Funktion gesetzt. Der Pilot – oder der Entführer am Steuerknüppel - wird entmachtet und ein automatisches Steuersystem erhält die Kontrolle über das Flugzeug. Das berechnet die optimale Route zum nächsten geeigneten Flughafen, fliegt die Maschine automatisch dorthin und landet sie.
Alternativ könnte auch die Bodenstation einen Flugplan berechnen und sie per Datenverbindung an das Flugzeug senden. Das Bordprogramm würde dann klären, ob die Notfallroute beim derzeitigen Zustand der Maschine zu erreichen ist.
Die Sorgen der Piloten
Grundsätzlich dürfte ein Autopilot für den Notfall mit moderner Technik umsetzbar sein. Schließlich fliegen militärische Drohnen schon seit Jahren ferngesteuert oder ganz autonom. Und auch auf Linienfügen bestimmten die Computer heute ab einer gewissen Flughöhe Tempo, Höhe und Kurs der Maschine. Nur bei Start und Landung greift der Pilot ein. „Eine vollautomatische Landung ist aber auf vielen Flughäfen schon möglich“, sagt Ulrich Paulus, Geschäftsführer der Luftfahrt-Akademie in Berlin.
Doch es bleiben Fragen offen: Was, wenn der Funkkontakt zwischen der Bodenstation und dem Flugzeug abreißt, bevor alle wichtigen Daten – etwa die gewünschte neue Flugroute und das Wetter am Flughafen – übertragen sind? Und wer ist juristisch zuständig für das Flugzeug, sobald es in den Autopilot-Modus wechselt – die Fluglinie, der Hersteller, die Nation des Luftraums, die Behörde zur Luftverkehrskontrolle Eurocontrol?
Auch mit Widerstand seitens der Flugzeugkapitäne gegen eine Fernsteuerung vom Boden ist zu rechnen. Schon heute sorgt die wachsende Abhängigkeit vom Flugcomputer in Pilotenkreisen für Unbehagen. „Der ist quasi allmächtig und für den Piloten immer weniger in die Schranken zu weisen“, klagt ein Lufthansa-Pilot. Das sorgt freilich für ein grundlegendes Problem. „Der Computer tut nur, was in ihm programmiert ist und wenn wir als Piloten die Dinge anders machen wollen, haben wir fast keine Chance uns durchzusetzen.“
Inzwischen fühlen sich viele Piloten entmündigt. „Selbst wenn wir auf Schulungen nachfragen und das System gerade für einen möglichen Ernstfall besser verstehen wollen, bekommen wir oft ‚das müsst ihr nicht wissen‘ als Antwort“, so der Lufthansa-Pilot. „Dabei ist es aus unserer Sicht unerlässlich, dass wir im Ernstfall die Zusammenhänge möglichst genau verstehen.“
Schrecklicher Verdacht: Co-Pilot flog absichtlich in den Tod
Suizide in der Luftfahrt sind selten, aber sie kommen vor. Im November 2013 kostete der Absturz einer Embraer-Maschine der Fluglinie Linhas Aéreas de Moçambique 33 Menschen das Leben. Laut der zuständigen Behörde in Namibia hatte der Co-Pilot das Cockpit kurz vor dem Unglück verlassen, um zur Toilette zu gehen. Der Pilot verriegelte daraufhin die Tür und steuerte das Flugzeug in Richtung Boden. Eine Boeing 767 der EgyptAir stürzt im Oktober 1999 US-Staat Massachusetts. Nach einer Untersuchung der US-Flugsicherheitsbehörde schaltete der Co-Pilot von Flug 990 den Autopiloten aus und leitete den Sinkflug ein. 1997 ließ der Pilot eines SilkAir-Flugs von Jakarta nach Singapur seine Boeing 737 absichtlich in einen Fluss stürzen - 104 Menschen starben. Auch bei der seit einem Jahr verschollenen Malaysia-Airlines-Maschine gilt die Selbsttötung eines der Piloten als eine der plausibelsten Unglücksursachen.
Laut einem offiziellen Report der US-Luftfahrtbehörde Federal Aviation Administration (FAA) aus dem vergangenen Jahr sind Selbsttötungen, die mit einem Flugzeug ausgeführt werden, „selten und ungewöhnlich“. Untersucht wurden 2758 tödliche Flugzeugunglücke auch kleinerer Maschinen in den USA, die sich zwischen 2003 und 2012 ereigneten. In acht Fällen gilt die Selbsttötung des Flugzeugkapitäns als Ursache. Sieben der Piloten waren bei dem Unglück allein an Bord.
Alle Piloten, die ihre Maschinen abstürzen ließen, waren männlich und zwischen 21 und 68 Jahren alt. Als mögliche Motive für die Taten identifiziert der FAA-Bericht unter anderem Depressionen, Beziehungsprobleme und finanzielle Schwierigkeiten. Vier der Piloten wurden positiv auf Alkohol getestet. Zwei nahmen offenbar Antidepressiva.
Grund für die Macht des Rechners war die Erfahrung früherer Abstürze. Jahrelang waren falsche Reaktionen des Piloten oder gar grobe Fehler die wichtigsten Unfallursachen. Darum haben vor allem die Ingenieure bei Airbus den Bordcomputers systematisch aufgewertet und so programmiert, dass er grobe Schnitzer verhindert, indem er bestimmte Befehle einfach nicht ausführt. So verhinderte der Rechner etwa, dass ein Flugzeugführer weiter Gas geben konnte, wenn das Flugzeug bereits zu schnell war oder blockierte die Bremsen, bis die Maschine sicher aufgesetzt war.
Riskanter Autopilot
Jüngste Zwischenfälle zeigen aber, dass sich auch der Autopilot irren kann. Im November wäre ein Lufthansa-Airbus A321 auf dem Flug von Bilbao nach München fast wegen einer Computerpanne abgestürzt. Vereiste Sensoren hatten dem Autopiloten falsche Daten zugespielt und einen Sinkflug ausgelöst. Erst nach Minuten gewannen die Piloten die Kontrolle zurück, als sie den Rechner abschalteten.
Immerhin: Die Ingenieure lernen aus solchen Fehlern und verbessern die Technik stetig. Sie legen ihre Flugzeuge ganz bewusst als lernendes System an. Nach jedem Zwischenfall durch eine falsche Reaktion des Piloten und erst recht, wenn der Computer eine richtige Reaktion verhinderte, passte etwa Airbus den Computer seiner Jets an.
Angst vor den Robo-Jets
Und so könnte sich die Technik in den nächsten Jahren als immer ausgefeilter erweisen. Manche Experten glauben, fliegende Roboter seien viel einfacher zu verwirklichen als selbstfahrende Autos. Und die rollen heute schon testweise durch die Städte.
Als erstes könnten Frachtflugzeuge automatisiert werden – was den Fluglinien die Kosten für die Crew sparen würde. Und wenn das klappt, dürften auch automatische Passagierflieger nicht mehr so gruselig erscheinen. „Eines Tages“, prophezeit Experte Paulus, „haben wir gar keine Piloten mehr an Bord.“
Pure Fiktion ist dieser Gedanke ohnehin nicht mehr: Der britische Rüstungs- und Luftfahrtkonzern BAE Systems etwa entwickelt einen autonomen Businessjet. Die Maschine mit 16 Sitzplätzen flog 2013 nahezu komplett computergesteuert und von einem Piloten in einer Bodenstation überwacht 800 Kilometer quer durch Großbritannien.
Im EU-Projekt MyCopter wiederum haben Forscher untersucht, wie Pendler mit fliegenden Autos zur Arbeit gelangen könnten – computergesteuert, mit Sensoren und einer Software versorgt, die Kollisionen verhindert.
„Die Technologie dazu gibt es heute schon“, sagt Mycopter-Projektleiter Frank Nieuwenhuizen vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen. „Sie muss nur richtig kombiniert werden. Und von der Gesellschaft akzeptiert werden.“
Und da liegt ein zentrales Problem: Selbst wenn irgendwann Flugzeuge autonom so sicher fliegen wie menschliche Piloten, müssen auch die Fluggäste sich in die Robo-Jets erst einmal hineintrauen. Und das, heißt es hinter vorgehaltener Hand bei einem Luftfahrtforschungsinstitut, sei ein ganz heikles Thema.
Die Vorstellung, einer Maschine ausgeliefert zu sein, behage vielen Menschen einfach nicht. Selbst eine Notfall-Computersteuerung dürfte darum große Akzeptanzprobleme bekommen.