Gustav Stolper Wir alle wollen seine Enkel sein

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Jura und Nationalökonomie

Zurück in Wien, steht für den 18-Jährigen der Berufswunsch fest: „Am liebsten Journalist.“ Er studiert Jura; doch nicht weil ihm das Rechtswesen am Herzen liegt. Ihn reizt das Nebenfach Nationalökonomie, das es damals als eigenständige Studienrichtung noch nicht gibt. Nebenher arbeitet er sich in sein Metier ein, verfasst Wirtschafts- und Bilanzanalysen für den „Hamburgischen Correspondenten“ und den Wiener „Kompaß“. Doch „seine Persönlichkeit scheint ihm eines zu verwehren, die Arbeit unter einem oder mehreren Vorgesetzten“, schreibt Jahrzehnte später seine zweite Frau Toni über ihren Mann – und so dauert es auch nicht lange, bis Stolper sein Ziel erreicht. Er übernimmt den „Österreichischen Volkswirt“ als Chefredakteur und Verleger in Personalunion.

In Wiener Kaffeehauszirkeln knüpft er ein exquisites Netzwerk mit Denkern und Mächtigen, schreibt gegen die Missstände seiner Zeit an, den Niedergang des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs, die aufziehende Kriegsgefahr.

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg begeistert er sich für den Anschluss Österreichs an Deutschland, gründet hierfür sogar eine eigene Partei, lernt Friedrich Naumann kennen und freundet sich mit Theodor Heuss an. Aufgrund seiner scharfen ökonomischen Urteilskraft steht er zweimal kurz davor, selbst in die Regierung einzutreten, als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und später als Finanzminister. Doch beide Male wird nichts daraus.

Die großen Themen der WirtschaftsWoche
20er Jahre: Inflation und KonsumKrieg kostet Geld. Großer Krieg kostet großes Geld. So könnte man die Hyperinflation begründen, die Deutschland von 1918 bis 1923 ereilte – als Folge des Ersten Weltkrieges. Auf dem Höhepunkt wurde 1923 die Rentenmark geschaffen, 1924 die Reichsmark. Es folgten die Goldenen Zwanziger mit viel Konsum, Musik – und der Gründung der WiWo-Mutter „Der deutsche Volkswirt“ 1926. Quelle: Fotolia
30er: DeflationNew York, Donnerstag der 24. Oktober 1929: Nach Jahren der immer steigenden Kurse, kommt es an der Wall Street zu Panik. Investoren fürchten eine Blase. Am 29. Oktober, vier Handelstage später, versuchen alle gleichzeitig, ihre Aktien abzustoßen. Die Wall Street steht still. Der schwarze Dienstag markiert bis heute den Beginn der Great Depression – der ersten Weltwirtschaftskrise. Quelle: Fotolia
40er: Bretton WoodsAm 1. Juli 1944 treffen sich in Bretton Woods im US-Bundesstaat New Hampshire die Vertreter von 44 Nationen, um eine umfassende Neuordnung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zu planen. Man will sich vor Abwertungswettläufen schützen und Protektionismus reduzieren – und beschließt so den globalen Gold-Devisen-Standard, gründet die Weltbank und auch den IWF. Quelle: dpa
50er: WirtschaftswunderNach dem Zweiten Weltkrieg, begünstigt durch die Aufbauphase, eine expansive Geldpolitik in den USA, eine ordoliberale Wirtschaftspolitik in Deutschland und natürlich den Marshallplan, erlebt West-Deutschland seine Renaissance: Die Einkommen steigen, die Investitionen auch. Die Zahl der Arbeitslosen sinkt. 1955 herrscht Vollbeschäftigung – ein Grund für den Babyboom. Quelle: AP
Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (2.v.l.) Quelle: dpa
70er: StagflationErste Belastungsprobe für Nachkriegsdeutschland: Die Inflationsrate steigt, ebenso die Schulden. Das Wirtschaftswunder endet mit gesättigter Nachfrage, steigenden Arbeitslosenzahlen und sinkenden Einkommen. 1973 herrscht die Ölpreiskrise. 1975 sinkt das Inlandsprodukt. Steigende Preise bei hoher Arbeitslosigkeit und stagnierendem Wachstum wird seither Stagflation genannt. (Das Archivbild zeigt eine Wanderung auf einer autofreien Autobahn im Dezember 1973. Die Sonntagsfahrverbote wurden wegen der anhaltenden Ölkrise angeordnet). Quelle: dpa
80er: UmweltbewegungNach der Friedensbewegung in den Siebzigern formiert sich ab 1980 eine politische Umwelt- und Sozialbewegung: Die Grünen treten an, Wirtschaft und Gesellschaft aufzumischen. Zwar verpasst man 1980 den Einzug in den Bundestag, erobert aber die Landtage von Hamburg, Hessen und Niedersachsen. 1983 entsendet die Partei dann erstmals Abgeordnete ins Bonner Parlament. Quelle: Fotolia

Bald wird ihm der Wiener Kosmos zu klein, er wechselt nach Berlin. 1926 gründet er dort „Den deutschen Volkswirt“. Namhafte Ökonomen wie Joseph Schumpeter und Alexander Rüstow kommen darin zu Wort. Die journalistische Unabhängigkeit sichert das im Heimatland erprobte Prinzip: Die Abonnements sichern die Kosten, die Anzeigen bringen Gewinn.

So schreibt Stolper an gegen die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationsökonomie von John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Er engagiert sich für die Deutsche Demokratische Partei, zieht 1930 in den Reichstag ein. Noch in der Wahlnacht im März 1933 wird ihm klar: „Wir wandern aus. Dem Hitler tue ich nicht die Ehre an, unter ihm zu leben!“ Von den Nazis bedroht, muss Stolper den Verlag für ein Spottgeld verkaufen, befreundete Banker sichern mit einem Beratervertrag den Start im amerikanischen Exil.

Ein amerikanischer „Volkswirt“ wird mit dem inzwischen in Harvard lehrenden Schumpeter erörtert, die Idee nie begraben, aber auch nie verwirklicht. Stattdessen lebt Stolper ganz ordentlich von ökonomischen Analysen und Kommentaren, die er im Auftrag europäischer Banken und Finanzinvestoren verfasst. Er schreibt für „Foreign Affairs“, „Harvard Business Review“, hält teils gut bezahlte Vorträge und betätigt sich sogar als Vermögensverwalter.

Nach dem Krieg kehrt Stolper nach Deutschland zurück, als Berater des amerikanischen Expräsidenten Herbert Hoover, der Deutschland wirtschaftlich wieder zum Leben erwecken soll. Stolper fasst seine Erfahrungen in dem Buch „German Realities“ zusammen. Das letzte Kapital fehlt – er stirbt in den USA an den Folgen eines Schlaganfalls, am Tag bevor er es seiner Frau Toni diktieren wollte.

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