War er ein großer Ökonom? Hat er einen Platz auf dieser Internetseite verdient? Gustav Stolper erdachte keine ökonomische Theorie. Die Wissenschaft verdankt ihm keine bahnbrechende Erkenntnis. Er löste keine knifflige Gleichung; das Stolper-Samuelson-Theorem, das bestimmte Preisentwicklungen im Außenhandel erklärt, geht auf seinen Sohn Wolfgang zurück. Vater Gustav hat es nicht einmal zum ordentlichen Professor an einer Universität gebracht. Stattdessen hatte er einen ausgeprägten Hang zur Politik, mischte sich mit Leidenschaft in die wichtigen Debatten seiner Zeit ein.
In Deutschland schaffte er es 1932 immerhin als Abgeordneter in den Reichstag. Alles in allem aber ist die Geschichte seines Wirkens in Österreich und in Deutschland die Geschichte eines doppelten Scheiterns. So gesehen lautet die Antwort: nein.
Aber andererseits? Sein ganzes Leben hat Gustav Stolper mit großer Leidenschaft der Ökonomie gewidmet. Der Verein für Socialpolitik, der traditionsreichste und renommierteste Zusammenschluss deutscher Volkswirtschaftler, hält die Erinnerung an Stolper jedes Jahr durch die Vergabe eines nach ihm benannten Preises wach, unter anderem an Hans-Werner Sinn (2008), Martin Hellwig (2009), Ernst Fehr (2010) und Otmar Issing (2011).
Gustav Stolper über...
„Das Weekly... wendet sich an Leute, die keine Zeit haben, eine große Tageszeitung regelmäßig und ausführlich zu verfolgen und denen man einmal in der Woche Gelegenheit gibt, in gut pointierter, sachlich hiebfester Form einen Über- blick über die wichtigen Zeitereignisse zu gewinnen“
„Wir stehen vor der Entscheidung, ob und wo wir im Frieden diktieren wollen und können. In der kapitalistischen Wirtschaft ist der Konsument Diktator, ihm hat die Produktion zu gehorchen. Entscheiden wir uns für Planwirtschaft, dann diktiert die Produktion dem Konsumenten. Es wäre das Ende der persönlichen Freiheit“
„Die Sozialdemokraten wollen die Besitzenden proletarisieren, wir wollen die Proletarier zu Besitzenden machen“
Erinnert wird damit an einen brillanten Wirtschaftsjournalisten, Verleger und Politiker. Ab 1911 schreibt Stolper für den „Österreichischen Volkswirt“, übernimmt das Blatt später. 1926 hebt er in Berlin die Zeitschrift „Der deutsche Volkswirt“ aus der Taufe – ein neuartiges und ungewöhnliches Magazin mit einer Mischung aus akademischen, außen- und wirtschaftspolitischen Themen und Unternehmensanalysen.
Daneben reist Stolper als erfolgreicher Redner durch das Land, ist wie kein Zweiter seiner Zeit vernetzt mit den Spitzen von Regierung und Unternehmen. Er und sein Blatt haben Erfolg – bis 1933. Mehr oder weniger gleichgeschaltet, erscheint das Blatt noch bis 1943 und lebt dann ab 1949 in seiner ursprünglichen Tradition wieder auf. 1970 wird aus „Dem deutschen Volkswirt“ die WirtschaftsWoche.
Geboren 1888 in Wien als Kind jüdischer Einwanderer aus Polen, ist Stolper eine Karriere als Wirtschaftsexperte, Publizist und Politiker nicht in die Wiege gelegt. Schon früh muss er in der Familie Verantwortung übernehmen. Sein Vater, von falschen Ratgebern zur Geldspekulation verleitet, hat sein Vermögen im Börsencrash 1895/96 verloren und findet danach nicht mehr ins geregelte Leben zurück. Gustav ist damals acht Jahre alt.
Schon mit 13 muss er dazuverdienen, damit es für ihn, die Eltern und seine zwei Schwestern reicht. Weil er in der Volksschule reichlich Einser schreibt, darf er aufs Gymnasium. Im Sommer 1906 belohnt er sich für die Matura mit einer Reise – zu Fuß geht es über die österreichischen Alpen und hinunter bis zum Adriatischen Meer. Finanziert wird das Abenteuer, indem Stolper zwei junge Schüler auf den wochenlangen Marsch mitnimmt und sie auf den Rückweg in Bad Ischl wohlbehütet den Eltern übergibt.
Jura und Nationalökonomie
Zurück in Wien, steht für den 18-Jährigen der Berufswunsch fest: „Am liebsten Journalist.“ Er studiert Jura; doch nicht weil ihm das Rechtswesen am Herzen liegt. Ihn reizt das Nebenfach Nationalökonomie, das es damals als eigenständige Studienrichtung noch nicht gibt. Nebenher arbeitet er sich in sein Metier ein, verfasst Wirtschafts- und Bilanzanalysen für den „Hamburgischen Correspondenten“ und den Wiener „Kompaß“. Doch „seine Persönlichkeit scheint ihm eines zu verwehren, die Arbeit unter einem oder mehreren Vorgesetzten“, schreibt Jahrzehnte später seine zweite Frau Toni über ihren Mann – und so dauert es auch nicht lange, bis Stolper sein Ziel erreicht. Er übernimmt den „Österreichischen Volkswirt“ als Chefredakteur und Verleger in Personalunion.
In Wiener Kaffeehauszirkeln knüpft er ein exquisites Netzwerk mit Denkern und Mächtigen, schreibt gegen die Missstände seiner Zeit an, den Niedergang des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs, die aufziehende Kriegsgefahr.
Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg begeistert er sich für den Anschluss Österreichs an Deutschland, gründet hierfür sogar eine eigene Partei, lernt Friedrich Naumann kennen und freundet sich mit Theodor Heuss an. Aufgrund seiner scharfen ökonomischen Urteilskraft steht er zweimal kurz davor, selbst in die Regierung einzutreten, als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und später als Finanzminister. Doch beide Male wird nichts daraus.
Bald wird ihm der Wiener Kosmos zu klein, er wechselt nach Berlin. 1926 gründet er dort „Den deutschen Volkswirt“. Namhafte Ökonomen wie Joseph Schumpeter und Alexander Rüstow kommen darin zu Wort. Die journalistische Unabhängigkeit sichert das im Heimatland erprobte Prinzip: Die Abonnements sichern die Kosten, die Anzeigen bringen Gewinn.
So schreibt Stolper an gegen die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationsökonomie von John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Er engagiert sich für die Deutsche Demokratische Partei, zieht 1930 in den Reichstag ein. Noch in der Wahlnacht im März 1933 wird ihm klar: „Wir wandern aus. Dem Hitler tue ich nicht die Ehre an, unter ihm zu leben!“ Von den Nazis bedroht, muss Stolper den Verlag für ein Spottgeld verkaufen, befreundete Banker sichern mit einem Beratervertrag den Start im amerikanischen Exil.
Ein amerikanischer „Volkswirt“ wird mit dem inzwischen in Harvard lehrenden Schumpeter erörtert, die Idee nie begraben, aber auch nie verwirklicht. Stattdessen lebt Stolper ganz ordentlich von ökonomischen Analysen und Kommentaren, die er im Auftrag europäischer Banken und Finanzinvestoren verfasst. Er schreibt für „Foreign Affairs“, „Harvard Business Review“, hält teils gut bezahlte Vorträge und betätigt sich sogar als Vermögensverwalter.
Nach dem Krieg kehrt Stolper nach Deutschland zurück, als Berater des amerikanischen Expräsidenten Herbert Hoover, der Deutschland wirtschaftlich wieder zum Leben erwecken soll. Stolper fasst seine Erfahrungen in dem Buch „German Realities“ zusammen. Das letzte Kapital fehlt – er stirbt in den USA an den Folgen eines Schlaganfalls, am Tag bevor er es seiner Frau Toni diktieren wollte.