Carsten Carstensen lehnt sich zurück in den Sitz des Zugabteils. Etwas unbeholfen dreht er sich um und zieht den Stoffbezug mit den Buchstaben HKX von der Kopfstütze. „Antimakassar heißt das hier“, sagt Carstensen und erklärt: „Das ist gegen die Fettkrusten auf dem Polster.“ Ob jemand wisse, woher die Bezeichnung stamme, fragt er die Mitreisenden.
Der Chef der Privatbahn Hamburg-Köln-Express (HKX) mit Sitz in Köln muss das Rätsel um das eigentümliche Tuch selber auflösen. Ein „findiger Kerl aus den USA“ habe mit solchen Stoffbezügen Sitze in Clubs überzogen, um sie gegen Haargel aus Makassaröl zu schützen, sagt Carstensen. Eine geniale Erfindung, findet er.
Carstensen lebt seinen eigenen amerikanischen Traum, und das mitten in Deutschland. Er ist heute ins sächsische Delitzsch gekommen, um ein letztes Mal nach dem Rechten zu schauen. Hier, im Instandhaltungswerk der schwedischen Firma EuroMaint, ließ er über Monate hinweg ältere Zugwaggons entkernen, die Technik modernisieren und Sitze bepolstern. Jetzt nimmt er sie ab. „Dieser Wagen ist in Ordnung“, sagt Carstensen erleichtert.
Seit fünf Jahren wartet der 44-Jährige auf diesen Moment, diesen Meilenstein: die Fertigstellung der lange herbeigesehnten, endlich komfortablen Waggons für seinen HKX. Sie sollen die Erlösung bringen, die Rettung vor dem drohenden Aus des Unternehmens. Nur wenn die Qualität stimmt, weiß Carstensen, hat HKX überhaupt noch die Chance, in die Annalen einzugehen als erster Fernzug, der der Deutschen Bahn mit vergleichbarem Standard und Service Paroli bietet.
Pflaumenfarbe der Hoffnung
Die pflaumenfarbenen Waggons mit Türen im Fliederton, die Carstensen abschließend checkt, sind seine letzte große Hoffnung, den Überlebenskampf mit der übermächtigen Deutschen Bahn und deren ICEs sowie Intercitys doch noch zu gewinnen. 2009 kaufte er alte Züge der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB). So wie Billigflieger in der Luftfahrt sollte HKX ein Jahr später als preiswerte Alternative zum ICE die Spielregeln im Fernverkehr auf den Kopf stellen. Doch die Zulassung verzögerte sich. Mehr als 60 Mal kam Carstensen seit 2012 nach Delitzsch, bis es so weit war.
Zwei Züge mit je drei Waggons kann der Rheinländer bald einsetzen – zugelassen für bis zu Tempo 160, mit WLAN, mehr Platz für die Reisenden als in vergleichbaren Zügen der Deutschen Bahn, kurz: fürs Bahnfahren wie in der ersten Klasse, aber Bezahlen wie in der zweiten. Im Dezember soll der Probebetrieb starten. „Wir haben so lange gewartet, jetzt gilt Gründlichkeit vor Schnelligkeit“, sagt Carstensen. 30 weitere, unfertige Wagen hat er noch in petto.
Der Einsatz der runderneuerten, aber eigenen Züge könnte HKX auf die Erfolgsspur setzen, nachdem das Unternehmen sein rollendes Material bisher von anderen Bahngesellschaften mieten musste. Deren Fahrzeuge fielen häufig aus und vergrätzten Passagiere so sehr, dass sie von ihrer Buchung absprangen. Das war die erste Nahtoderfahrung für den HKX. „Durch den Einsatz eigener Züge stabilisiert sich unser Fahrbetrieb und sinken unsere Mietkosten“, ist Carstensen jetzt überzeugt.
Ein gewöhnliches Start-up hätte solche Tiefschläge nicht überstanden. Doch hinter HKX steht ein ebenso eigenwilliger wie nervenstarker und langfristig orientierter Investor aus Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania, der es sich nicht nehmen ließ, die Pflaumen-Züge in Delitzsch schon zu begutachten. „Ich bin ein geduldiger Investor, aber ein ungeduldiger Manager“, sagt Henry Posner, Chef der Railroad Development Corporation (RDC), die den HKX mit mehreren Millionen Euro finanziert hat. „Misserfolg gehört zum Geschäft.“
Zarte Erfolge
Der schlaksige Fliegenträger finanzierte mit seiner Beteiligungsfirma bereits weltweite Bahnprojekte, etwa in Estland, Frankreich, Kolumbien und Guatemala. Er macht sich keine Illusion, dass er auch beim HKX „einen langen Atem“ braucht. Wer sich in der Bahnbranche engagiere, „tut dies auch aus Leidenschaft“, so Posner. „Das ist kein Job, sondern eine Berufung.“
Mit dieser Einstellung hat Posner den Kern eines kleinen Bahnimperiums aufgebaut. Den Anfang machte die Iowa Interstate Railroad im amerikanischen Norden. Aus der habe er nach zehn schwierigen Anfangsjahren eine „extrem profitable“ Güterbahn gemacht. Das Geld investiere er in „riskante Geschäfte im Ausland“.
Posner verfolgt eine merkwürdige Philosophie. „Mache lieber ein schlechtes Geschäft mit einem guten Partner als ein gutes Geschäft mit einem schlechten Partner“, sagt er. Denn nur mit einem guten Partner gelänge es, ein schlechtes Geschäft langfristig und nachhaltig erfolgreich zu machen. „Auch deshalb bin ich zuversichtlich, in Deutschland langfristig Erfolg zu haben.“ Außerdem zahle sich die „Hartnäckigkeit beim HKX langsam aus“.
Tatsächlich funktioniert der HKX heute anders als beim Betriebsstart 2012. Im Frühjahr änderten Posner und das Unternehmen zum ersten Mal die Strategie. Das Management wurde verkleinert, die bisherige Chefin Eva Kreienkamp verließ HKX, seitdem führt Carstensen die Geschäfte alleine. Er sortierte die anfälligsten Züge aus und strich den Fahrplan zusammen.
Eher etwas schlicht gestrickt
Das brachte zarte Erfolge. Einbrüche bei den Fahrgastzahlen wie im Herbst 2013 blieben aus. Die Zahl der Passagiere hielt sich mit rund 40.000 Fahrgästen pro Monat stabil, dank weniger Zügen sei „die Auslastung hochgegangen“, so Carstensen. Ab Oktober wird der Fahrplan daher auf maximal zwei Hin- und Rückfahrten pro Tag zwischen Köln und Hamburg reduziert.
Die zweite strategische Änderung betraf den Fahrkartenverkauf. HKX bietet seine Tickets etwa über die Web-Seite und im Zug an. Künftig sollen auch Tickets der Deutschen Bahn anerkannt werden. Dann können Reisende im Reisezentrum, über Fahrkartenautomaten und auf bahn.de oder über die Handy-App des Konkurrenten aus Berlin ihre Tickets kaufen.
Um das zu ermöglichen, muss der HKX die Anerkennung als Nahverkehrsbahn erlangen. Die Landesbehörden in Nordrhein-Westfalen haben dem Antrag bereits zugestimmt. HKX konnte nachweisen, dass die Mehrzahl der Reisenden weniger als eine Stunde im Zug sitzt. So definiert das Gesetz den regionalen Eisenbahnverkehr in Deutschland.
Üblicherweise fahren solche Züge im Auftrag der Bundesländer, die die Strecken ausschreiben und dafür bezahlen. HKX dagegen fährt voll auf eigene Rechnung. Das Unternehmen muss sich jetzt nur noch mit der Deutschen Bahn einigen, wie die Einnahmen verteilt werden, wenn Passagiere mit Zügen beider Unternehmen reisen. Die Verhandlungen laufen noch. Kommen sie zu einem gütlichen Ende, genügt künftig ein einziges Ticket, um etwa von Kiel nach Koblenz zu fahren und dazu sowohl die üblichen Regionalzüge als auch den HKX zu benutzen. „Wir haben uns jetzt das Beste aus zwei Welten ausgesucht“, sagt Carstensen. HKX fahre weiter eigenwirtschaftlich im Fernverkehr und profitiere davon, gleichzeitig als Nahverkehr zu gelten. „Man muss sich halt den Wünschen der Kunden anpassen.“
Das versucht Carstensen mit der Kraft der Verzweiflung, um HKX das Überleben zu sichern. Die Preise passte er den Billigtarifen der stürmischen Konkurrenz durch die Fernbusse an. Beim Catering, so Carstens Erfahrung, habe sich gezeigt, dass die Fahrgäste weder Gurkensticks noch Frischobst wünschten.
Also bietet HKX ein Sortiment aus 20 Klassikern wie Coca-Cola, Snacks und Filterkaffee an. Der durchschnittliche Fahrgast sei eher etwas schlichter gestrickt, meint Carstensen und lächelt.
Die pflaumenfarbenen Züge mit den Türen im Fliederton haben die Stimmung des HKX-Chefs offensichtlich gehoben.