Wohl kein Unternehmen muss sich mit so viel feindlich gesonnenen Kunden herumschlagen wie die Deutsche Bahn. Das „Bahn-Hasser-Buch“ oder die Spottschrift „Senk ju vor träwelling“ stehen für ein Phänomen, das in der deutschen Unternehmenslandschaft seinesgleichen sucht.
Einer, der Erklärungsversuche für die zahllosen Wutausbrüche an den Bahnsteigen und in den Zügen unternimmt, ist der Marktforscher Stephan Grünewald vom Kölner Rheingold Institut. Zwischen Kunden und Bahn gebe es ein „besonderes Verhältnis“, sagt der Psychologe. Die Deutsche Bahn sei kein „normales Unternehmen“. Sie werde vielmehr „als staatliche Instanz wahrgenommen, die den Menschen gehört“. Insofern glaube der Kunde, einen „staatlich verbrieften Anspruch“ auf Grundversorgung mit Transportleistung zu haben.
Persönliche Kränkung
Daraus leitet Grünewald eine These ab, die für die Bahn seiner Ansicht nach einer Art Naturgesetz gleichkommt. „Unpünktlichkeit erleben viele Reisende als persönliche Kränkung“, sagt der Ergründer der Konsumentenseele. Denn anders als beim Auto, in dem sich das Individuum als Herr über das Verkehrsmittel wähne, meinten die Kunden bei der Bahn, mit dem Kauf einer Fahrkarte ihre Eigenständigkeit zu verlieren. „Im Zug fühlen sie sich dann ohnmächtig einem fremden Räderwerk ausgeliefert“, sagt Grünewald. „Verspätungen oder störende Mitreisende empfinden sie als Zuspitzung der Ohnmacht. Der artikulierte Ärger ist dann ihr Versuch, ein Stück Autonomie zurückzugewinnen.“
Bashing ist für Grünewald deshalb ein integraler Bestandteil des Bahn-Geschäfts, ja geradezu „unvermeidlich“. Weil Zugfahren ein „Akt partieller Selbstaufgabe“ sei, gewinne der Kunde „durch Bahn-Bashing wieder die Oberhand“.
Die Deutsche Bahn will das Problem in den Griff bekommen, indem sie versucht, Wutattacken ihrer Kunden die Spitze zu nehmen. Dazu hat sie in dem Kurznachrichtendienst Twitter den Kanal @db_bahn eingerichtet. Auf ihm können ungehaltene Reisende ihre Aggressionen in 140 Zeichen lesbar für alle Twitterer loswerden. Ein Twitter-Team aus rund einem Dutzend Mitarbeiter antwortet darauf in der Regel innerhalb von Minuten – in geschult höflichem Ton und inhaltlich kompetent.
Das Twitter-Team hätte die Entscheidung von Bahn-Fan Appelt, seine teure Bahncard 100 durch die viel preiswertere Bahncard 50 zu ersetzen, aber wohl kaum verhindern können. So testete die WirtschaftsWoche die Überredungskünste der Kundenberuhiger mit der Beschwerde: „Immer diese Verspätungen. Hätte gute Lust, meine Bahncard 100 zu kündigen. Was halten Sie von der Idee?“ Daraufhin kam von der Deutschen Bahn letztlich die Antwort: „Es tut mir leid, dass Sie von Verspätungen betroffen waren. Vielleicht geben Sie uns ja noch eine Chance.“