Hauptstadt-Nahverkehr nach Corona Wie Berlins Nahverkehr wieder zum Leben erweckt werden soll

BVG: Historischer Nachfrageeinbruch bei Bus und Bahn. Quelle: imago images

Nach einem historischen Nachfrageeinbruch will Eva Kreienkamp den Hauptstadt-Nahverkehr mit Homeoffice-Tickets und mehr Komfort reanimieren. Die Chefin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) setzt auch auf E-Busse – und hofft endlich auf Technik aus Deutschland. 

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Bei Eva Kreienkamp schlagen zurzeit zwei Herzen. In ihrer Rolle als Chefin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) leide sie unter dem historischen Nachfrageeinbruch. Die Lage sei „katastrophal“, sagt sie. Mehr als 50.000 Hauptstädter hätten ihr Abo gekündigt, rund 15 Prozent aller Flatrate-Fahrer, erzählt sie im „Chefgespräch“-Podcast der WirtschaftsWoche. Aber Kreienkamp steigt eben auch selbst öfter mal in Bus und Bahn. Und derzeit, sagt sie, bekomme sie „immer einen Sitzplatz“. Als Kundin fühle sich das gut an. 

Wird das so bleiben? Auch nach Corona? Wie verändert sich der Nahverkehr, wenn die Meisten geimpft und nicht mehr ausschließlich von Zuhause aus arbeiten müssen? Seit Oktober 2020 steuert Kreienkamp den Berliner Nahverkehr – sie kam also mitten in der Krise. Nun, wo sich ein Ende des Lockdowns abzeichnet, macht sich die 58-Jährige wieder Gedanken über die Zukunft der gelben Hauptstadt-Busse, Untergrund- und Straßenbahnen. Ihr Credo: Die BVG werde sich an neue Gepflogenheiten in einer veränderten Arbeitswelt anpassen müssen. Auch die Hygieneansprüche der Fahrgäste hätten sich verändert.   

Klar ist: Es gibt Menschen, die immer auf den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) angewiesen sein werden. Zum Beispiel Werkstattarbeiter, Krankenpfleger und Kita-Mitarbeiter. Büroarbeiter hingegen werden sich nach der Pandemie wohl in einer hybriden Arbeitswelt wiederfinden. Es ist also alles andere als sicher, ob diese Gruppe wieder voll und ganz auf Bus und Bahn umsteigen wird. Und auch der Freizeitverkehr könnte sich dauerhaft verändern.   

Eva Kreienkamp setzt als Chefin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) auch auf E-Busse. Quelle: BVG

An sich war der Berliner Nahverkehr bis zur Coronapandemie eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Jedes Jahr seit 2008 stiegen mehr Fahrgäste in Bus und Bahn, 2019 waren es rund 1,1 Milliarden Menschen. Im vergangenen Jahr brach die Nachfrage dann um rund ein Drittel ein, mehr als 200 Millionen Euro Einnahmen waren futsch. Das Unternehmen will nun gegensteuern. „Unser erklärtes Ziel: andere Tarifmodelle ausprobieren“, sagt Kreienkamp im WiWo-Podcast. Dafür brauche sie Partner in den Verkehrsverbünden, die andere Strukturen und Fahrgäste hätten. Die BVG wolle „Sachen ausprobieren“.

In der Diskussion sind zwei Ticketinnovationen, die so ähnlich auch bei anderen Nahverkehrsunternehmen diskutiert werden. Kreienkamp kann sich etwa eine Art „Homeoffice-Ticket“ vorstellen, wobei der Name noch unausgegoren ist. Das Prinzip ähnelt einer Vierfahrtenkarte: Pendler könnten sich vorab ein Kontingent mit beispielsweise zwölf Tageskarten kaufen und innerhalb eines „bestimmten Zeitraums“ abfahren. Kreienkamp ist überzeugt: Die Menschen werden sich in Zukunft sehr genaue Gedanken machen, an welchen Tagen sie etwa ins Büro fahren oder für Freizeitaktivitäten unterwegs sind und wann sie zu Hause bleiben. 

Eine weitere Tarifoption: Ähnlich wie die Bahncard bei der Deutschen Bahn denkt die BVG über eine Rabattkarte im Nahverkehr nach. Bezahlt wird die Karte einmalig, gültig dann für einen längeren Zeitraum. Einzeltickets innerhalb dieser Periode würden dann „wesentlich preiswerter“, sagt Kreienkamp. „Das sind die Diskussionen, die wir führen.“ Sie hoffe, den Berlinern und Berlinerinnen noch „in diesem Jahr gute Lösungen“ anbieten zu können.

Eva Kreienkamp übernahm mitten in der Pandemie die Berliner Verkehrsbetriebe. Im Podcast erzählt sie, wie sich die urbane Mobilität nach Corona entwickeln wird und warum Spaziergänge ein gutes Managementinstrument sind.
von Christian Schlesiger

Bundesweit sind Nahverkehrsunternehmen gezwungen, sich über die Zukunft von Bus und Bahn nach Corona Gedanken zu machen. Ein Bericht der Bundesländer für den Verkehrsausschusses des Bundestages beziffern Einnahmeverluste des Jahres 2020 auf 3,3 Milliarden Euro. Eine ähnliche Größenordnung wird für 2021 erwartet. Bund und Länder hatten sich 2020 bereiterklärt, gemeinsam mit fünf Milliarden Euro für Schäden im Nahverkehr aufzukommen. Der Bund hatte Anfang Mai noch einmal aufgestockt. Es darf erwartet werden, dass die Nahverkehrsunternehmen damit den Schaden weitestgehend ersetzt bekommen – und auch in Zukunft unterstützt werden. Man brauche auch „nach der Pandemie starke öffentliche Verkehrsmittel“, sagte Finanzminister Olaf Scholz (SPD). Union, Grüne und Linke sind sich da weitestgehend einig. 
Unklar bleibt aber noch, wie die Bürger selbst den Nahverkehr nachfragen werden. Wenn man so will, gibt es nach einem Jahr Pandemie nahezu 80 Millionen Aerosolexperten in Deutschland, die Ansprüche an Sauberkeit, Hygiene und Luftreinheit hätten sich erhöht, sagt Kreienkamp. Im Prinzip hätten Studien gezeigt, dass das häufige Türöffnen in Bussen und Bahnen für eine gute Durchmischung der Luft ausreiche. Es gebe in Bussen und Bahnen „keine Zeit für Aerosolverdichtung“. 

Gleichwohl sei ihr bewusst, dass das, was die Wissenschaft sagt, nicht unbedingt mit dem korreliere, was die Menschen fühlten. Viele Fahrgäste würden wohl „Masken länger tragen, um ihr eigenes Sicherheitsgefühl länger aufrecht zu erhalten“. Die BVG sei außerdem bemüht, das Komfort- und Sicherheitsgefühl zu erhöhen: durch mehr Angebot im Fahrplan, häufigere Takte, neue Straßenbahnen und U-Bahn-Linien. Man wollen den Menschen während der Fahrt einen „Teil der Entspannung“ geben. Kreienkamp ist überzeugt, dass die Leute wieder zurückkommen werden. Schon allein deshalb, weil die Politik den öffentlichen Nahverkehr inzwischen als wichtiges Instrument im Kampf gegen den Klimawandel ansehe. Es gebe eine Klimaschutzdebatte, die an Fahrt gewinne. „Wir sind Teil der Lösung“, sagt die BVG-Chefin. 

Berlin wird seine Busflotte daher bis 2030 komplett elektrifizieren. 140 E-Busse sind bereits im Einsatz. „Wir sind Vorreiter“, sagt die Managerin im Gespräch mit der WirtschaftsWoche. Die BVG würde ständig dazu lernen: etwa in punkto Reichweite, Linienführung, Wartungsintervalle und Kälteempfindlichkeit. „Wir machen Forschung und Entwicklung für die Republik“. Kreienkamp setzt auch auf einen Wissenstransfer zwischen den Unternehmenssparten. Die Mitarbeiter in den Geschäftsbereichen Straßenbahn und U-Bahn wüssten schließlich „sehr viel“ über Elektromobilität, die Kollegen aus dem Busbereich „noch nicht so viel“. Der Wissenstransfer sei eine „große Herausforderung“.   

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Die BVG will weitere 90 E-Busse bestellen, eine Ausschreibung läuft. Bislang setzt die BVG beim Elektroantrieb auf den polnischen Busbauer Solaris. Kreienkamp sei in der Vergangenheit auch schon „auf Lernreise in China“ gewesen. Sie sei „beeindruckt“ gewesen, in welchem Tempo die Busflotten dort elektrifiziert würden. Bei der neuen Ausschreibung hofft sie auch auf Beteiligung der deutschen Hersteller. Bislang hatten die Unternehmen keine E-Busse im Angebot. Sie würde sich „sehr wünschen, wenn das große Automobilland Deutschland auch bei den Nutzfahrzeugen einen Quantensprung“ machen würde.

Mehr zum ThemaHören Sie hier das Podcast-Gespräch mit Eva Kreienkamp! Die BVG-Chefin erklärt darin, wie sich die urbane Mobilität nach Corona entwickeln wird und wie sie die Hauptstadt-Busse auf Elektroantrieb umrüstet.

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