Jean-Remy von Matt „Die Werbebranche hat Autorität verspielt“

Zum 25. Geburtstag seiner Agentur rechnet der Top-Kreative Jean-Remy von Matt im Handelsblatt Magazin mit seiner Branche ab: Er kritisiert deren „gigantischem Selbstbetrug“ ebenso wie den grassierenden Jugendwahn und politische Korrektheit in Zeiten des Internets.

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„Der Wettbewerbsdruck hat uns willfährig gemacht.“ Quelle: Heiko Richard für Handelsblatt Magazin

Berlin Zu den angeblich „werberelevanten“ Zielgruppen der 14- bis 49-Jährigen gehört er längst nicht mehr: Jean-Remy von Matt ist 63. Und auch wenn man ihm das wirklich nicht ansieht, ist er doch weitaus werberelevanter als die meisten: Weil seine Agentur Jung von Matt, die dieses Jahr 25 wird, vielleicht die renommierteste der Republik ist. Weil sich von Matt längst in unsere Köpfe eingebrannt hat mit Slogans wie „Geiz ist geil“, „Bild dir deine Meinung“ oder „Wie wo was weiß Obi“. Und weil er durchaus eine Instanz geworden ist im kurzatmigen Werbegeschäft.

Nun zieht er im am Freitag erscheinenden Handelsblatt Magazin Bilanz: über die verlotterten Sitten und den „gigantischen Selbstbetrug“ seiner Branche ebenso wie über den grassierenden Jugendwahn und politische Korrektheit in Zeiten des Internets. Der Top-Kreative: „Die Angst vor dem Shitstorm ist immer da.“ Und er kann sich sicher sein, dass er seinen Konkurrenten wieder viel Gesprächsstoff geliefert hat, denn von Matt geht in seinem Jubiläums-Gespräch einmal mehr in die Vollen.

Seiner Branche stellt er kein gutes Zeugnis aus: Man habe in den vergangenen Jahren „Autorität verspielt“, mahnt er. „Der Wettbewerbsdruck hat uns willfährig gemacht, so dass wir oft nicht mehr beraten, sondern nur noch liefern. Mein Idealbild war immer, dass wir Werber wie der Beifahrer eines Rallye-Piloten unseren Kunden ständig zurufen, wo es langgeht. Inzwischen sitzen wir oft nur noch quengelnd hinten im Kindersitz.“ Werbung sei „intransparenter denn je. Zum Beispiel mit Content-Marketing, Native Advertising oder Branded Entertainment, was im Ergebnis alles Schleichwerbung ist.“

Harsches Fazit des 63-Jährigen: „Eigentlich sind wir genau dort gelandet, wo man uns schon vor 50 Jahren vermutet hat – als geheime Verführer.“ Hinzu komme, dass „der Absicherungswahn in Konzernen viel verhindert“ an Kreativität. „Früher gab es nach einem Pitch einen Sieger und mit dem wurde dann ein Honorar ausgemacht“, klagt von Matt. „ Heute gibt es keinen Sieger mehr, sondern es wird mit mehreren Agenturen verhandelt. Und oft gewinnt das bessere Angebot gegen das bessere Konzept.“

So sei das Werbegeschäft heute „extrem kompetitiv“ – und das Gebaren der Konkurrenz bisweilen durchaus „schmutzig“.

Werbung sei „genauso verlogen wie alle anderen Branchen“, sagt er. „Überall rechtfertigt man Schummelei damit, dass es die anderen doch auch tun. Denken Sie an diese ganzen Kampagnen für Charitys, die unsere Branche produziert. Die gibt es nicht, weil der Werber ein gutes Herz hat, sondern weil er sich hier ohne Gegenwehr eines Auftraggebers kreativ verwirklichen kann.“ Jean-Remy von Matt: „Man produziert etwas auf eigene Kosten und lässt sich dafür feiern. Viel wichtiger als solche Preise ist mir, dass die Menschen auf der Straße über unsere Arbeit reden.“

Doch seinen Kollegen attestiert er „einen gigantischen Selbstbetrug“, wenn es zum Beispiel um sogenannte virale Werbung geht, die sich nur noch durch die Konsumenten und die sozialen Netzwerke verbreiten soll: „Der Lockruf lautet: Reichweite ohne Mediakosten“, höhnt der Top-Kreative. „Dafür werden massenhaft Virals produziert, die in Wirklichkeit keine sind, weil sie bei ein paar Tausend Abrufen liegen blieben, was natürlich in keinem Verhältnis zu den Produktionskosten steht.“ Von Matt nennt es „die Gnade des Internets: Die Algorithmen machen Misserfolge unsichtbar. Wir sehen immer nur die Handvoll Erfolge, aber nie das Massengrab der Flops.“ Er hat gut schimpfen, denn der Edeka-Spot #heimkommen aus seiner Agentur hat sich viral mittlerweile rund 50 Millionen Mal verbreitet.

Wie sich so einer den Abschied aus der eigenen Agentur vorstellt? „Gar nicht.“ Hat er also keine Angst, als einer dieser typisch-deutschen Mittelstands-Patriarchen zu enden, die ja auch oft den Ausgang nicht finden? „Doch, natürlich schon! Ich lese diese Der-Alte-konnte-nicht-loslassen-Storys mit großem Respekt. Umso mehr bemühe ich mich, eine meinem Alter angemessene Rolle zu finden und der neuen Führung nicht im Weg zu stehen. Und es nerve ihn, dass er sich dauernd für sein Alter rechtfertigen müsse: „Als mich zuletzt ein Branchenjournalist fragte, ob ich überhaupt noch fit genug bin für den Job, habe ich wortlos mit 30 Liegestützen geantwortet. Der Nächste, der fragt, kriegt 50.“

Auf die Frage, ob er heute noch mal eine Karriere als Werber starten würde, sagte von Matt dem Handelsblatt Magazin: „Ich weiß nicht.“ Der Einsatz sei „sehr hoch. Zu viele sinnlos durchgearbeitete Nächte. Ein permanentes Rattenrennen, und du bist nie am Ziel.“ Es beruhige ihn sehr, dass sich seine beiden Söhne „für alles interessieren, nur nicht für Werbung“. Er selbst fühlt sich jedenfalls auch jenseits der werberelevanten Zielgruppen sehr wohl. Sein Fazit: „Älterwerden ist nicht nur Scheiße.“

Welche Note Jean-Remy von Matt seiner eigenen Agentur aktuell gibt und was sein neues Berliner Haus mit den Brüsten seiner Frau zu tun hat, womit er Alt-Kanzler Gerhard Schröder Angst einjagte, wieso Frauen sich in der Werbebranche schwerer denn je tun und warum er auf Bettelbriefe von alten Kollegen nie eingeht, lesen Sie im neuen Handelsblatt Magazin.

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