José Manuel Barroso „Europa kann Rückstand bei Digitalisierung aufholen“

José Manuel Barroso bleibt optimistisch für Europa. Quelle: Campus Symposium Oliver Pohl

Die großen Digitalunternehmen stammen nicht aus Europa. Das hat kulturelle Gründe, sagt der ehemalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso.

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Herr Barroso, in den vergangenen Wochen erzielten gleich zwei US-Unternehmen den Börsenwert von einer Billion Dollar - Apple und Amazon. Beides sind sehr junge Unternehmen mit starkem digitalem Angebot. Warum kommt kein einziges Unternehmen aus Europa auch nur in ihre Nähe?
Das hat verschiedene Ursachen. Ein wichtiger Grund ist, dass wir in Europa zwar sehr gute Forschung haben, es aber nicht gelingt, dieses Know-how zu Unternehmen zu transformieren. Wenn Sie sich die Statistiken zu den Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Magazinen anschauen, werden Sie feststellen, dass es dort mehr Artikel von europäischen als von US-amerikanischen Wissenschaftlern gibt. Die Realität ist, dass wir traditionell nicht in der Lage sind, die fundamentale Forschung für den Markt zu übersetzen und sie dort zu nutzen.

Was machen die US-Amerikaner besser?
Sie sind aus kulturellen Gründen immer schon besser beim Gründen von Unternehmen. Sie machen aus Start-ups große Unternehmen. Das ist in meinen Augen in den USA dynamischer als in der EU. Ich habe einige Vorlesungen in Princeton und Georgetown gehalten. Und selbst die Studenten aus den Geisteswissenschaften - also nicht die Informatiker und Ingenieure - verfolgten viel genauer und neugieriger, was im Technologiesektor passiert. Ein weiterer Grund für die Ausgangslage wird jedoch häufig übersehen.

Der wäre?
Die Fragmentarisierung des europäischen Marktes. In Europa wehren sich trotz all der großen Bemühungen der EU die Regierungen traditionell gegen einen vollständig integrierten Markt, wenn es um digitale Services geht. Wir haben 28 digitale Märkte in Europa. Sie merken das, wenn sie von Belgien nach Luxemburg fahren und sie nicht die gleichen Videos herunterladen können. Das ist absurd. Der Markt von heute ist ein digitaler Markt - und der von morgen erst recht. Da hatten die Amerikaner von Beginn an einen Heimatmarkt, dessen Größenordnung den jedes einzelnen EU-Landes übertrifft - weil es nationale Widerstände gibt, einen wirklich gemeinsamen digitalen Markt zu schaffen.

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Wenn das klappen würde, wäre die EU da, wo die USA sind?
Nein, denn es gibt in den USA auch eine andere Art der Finanzierung, die viel weiter entwickelt ist als in Europa. In Europa werden Unternehmen eher von Banken finanziert, die zurückhaltender sind. Die Risikokapitalgeber aus den USA sind viel mutiger. Diese Gründe zusammengenommen erklären, warum unsere amerikanischen Partner bei digitalen Unternehmen erfolgreicher sind. Aber wir müssen uns eine weitere Frage stellen.
Welche?
Warum es den Amerikanern gelingt, die besten Leute aus Europa in die USA zu holen. Ich habe das Silicon Valley mehrfach besucht und war jedes Mal überrascht zu sehen, wie viele Europäer dort arbeiten. Warum zieht es sie dorthin? Weil es eine besser entwickelte Kultur der Innovation gibt.

Das klingt nicht sehr optimistisch für Europa.
Es gibt natürlich auch gute Unternehmen aus Europa. In Deutschland, den nordischen Ländern oder auch in meinem Heimatland Portugal. Dort finden sie eine Generation vor, die viel offener ist. Deswegen bin ich sicher, dass wir in Zukunft in digitalen Geschäften eine größere Rolle spielen werden.

Im Silicon Valley arbeiten Unternehmen sehr eng mit den Universitäten zusammen, viele sind Spin Offs. Muss die europäische Lehre ihre Regeln lockern für noch mehr Partnerschaften, bei denen Unternehmen das Know-how der Universitäten nutzen oder Forschung erst möglich machen?
Dies nur als Beispiel: Als wir damals das EIT, das European Institute of Innovation and Technology, gründeten, gab es eine Menge Widerstand. Dabei haben wir doch die Ingenieure! Natürlich in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Es stimmt, dass unsere Universitäten mehr Distanz zum Markt haben. Das müssen wir ändern. Die Briten haben da einen Ansatz ähnlicher den USA und sind damit erfolgreich. Es gibt zwei Universitäten in Europa, die viel Förderung aus dem Europäischen Fonds bekommen haben - Cambridge und Oxford. Warum? Weil sie interessante Projekte hatten, die fundamentale Forschung mit internationalen Konzernen zusammenführten, die daraus neue Produkte oder Dienstleistungen entwickeln wollten.

Ist der Rückstand aufzuholen?
Ja, Europa muss sich berappeln. Ich denke, dass es in der Bildung eine stille Revolution gibt: Als ich in den Siebzigerjahren studiert habe, war es sehr schwer, in Lissabon jemanden zu finden, der nicht aus Portugal kam. Das hat sich komplett geändert. Ich unterrichte in Lissabon an der Universität und in Genf. Die Unis sind nicht länger nationale Institutionen, es kommen Menschen aus aller Welt. Auch viele Deutsche studieren in Lissabon. Englisch wurde die Lingua Franca - und ich bin froh, dass es eine europäische Sprache ist. Ich denke, dass die Mobilität der Studenten in Europa die gegenseitige Befruchtung mit Ideen stark vorantreiben wird. Die neue Generation ist vollkommen anders als meine eigene.

Ist die Harmonisierung digitaler Aktivitäten die wichtigste Aufgabe für europäische Politiker? Wichtiger als viele andere, sei es Wirtschaft oder Ökologie?
Ich möchte keine Rangliste aufstellen und die ökologischen Fragen sind sicher drängend. Und auch da waren wir Europäer weit vorne. Wir haben viele Initiativen gestartet zu einem Zeitpunkt, zu dem die USA oder China dafür noch nicht bereit waren.. Darauf können wir stolz sein. Aber was sehen wir? Heute sind die Chinesen weit vorne bei der Solarzellentechnik. Wieder einmal: Europa war Pionier bei den Konzepten und sogar den politischen Vorgaben, aber als es darum ging, das in ein Geschäft und konkrete Profite zu wandeln, haben uns die anderen hinter sich gelassen. Als ich noch im Amt war und darüber mit Angela Merkel sprach, war sie sich ebenfalls sehr im Klaren darüber, dass die Digitalisierung alle Industrien verändern wird. Es ist ein Fehler, der bis vor kurzem noch häufig gemacht wurde, Digitalisierung als Sektor zu verstehen. Es ist keine Branche, es ist ein horizontales Phänomen, das die Zukunft von Produktion and Vertrieb der Old Economy gestalten wird. Und wenn wir den Kampf um die Digitalisierung verlieren, verlieren wir den wirtschaftlichen Kampf. Es ist also wirklich existentiell, dass wir das hinbekommen.

Deutschland gilt als High-Tech-Land, hinkt aber in vielen Aspekten der Digitalisierung anderen Ländern hinterher. Wieso?
Ich war bei einer Konferenz, auf der auch der Chef von Google sprach. Er wurde gefragt, was das beste Land in Bezug auf die Haltung zur Digitalisierung sei. Und alle erwarteten als Antwort: USA. Doch seine Antwort war: Estland. Es zeigt einmal mehr, dass wir in Europa innovative Sektoren haben. Deutschland ist ein sehr großes Schiff. Es ist ein Powerhouse für technologische Innovation und sie müssen nur nach China gehen, um den Respekt der Chinesen vor der Technologie aus Deutschland zu betrachten. Aber traditionell wird es eher mit Hardware als mit Software verbunden. Dinge, die sehr solide und verlässlich sind - aber vielleicht nicht so disruptiv wie andere. Der Appetit auf disruptive Technologien ist nicht so groß. Wahrscheinlich gibt es eine Kultur der Vorsicht und Klugheit. Diese Vorsicht hat in Bezug auf viele Dinge Vorzüge - sie ist seit der griechischen Antike wichtig. Aber manchmal muss man diese Vorsicht mit einer Offenheit für Veränderungen mischen. In meiner Zeit als Portugals Ministerpräsident setzte ich mich etwa dafür ein, dass Kreditkarten im Supermarkt zum Standard-Zahlungsmittel werden. Und da ist Portugal heute viel weiter als Deutschland.

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