Kommunale vs. private Betriebe Der Kampf um Deutschlands Nahverkehr

In den Städten tobt ein Kampf um lukrative Aufträge für den Nahverkehr. Das Feld ist fest in der Hand öffentlicher Unternehmen. Nun wollen auch Private mitmischen. Eine Geschichte über die Tücken auf dem freien Markt.

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Karl-Hülsmann Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche

Als Karl Hülsmann senior das Ende der Marktwirtschaft ausruft, ist es kurz vor zwölf Uhr mittags. Hülsmann hat da gerade zehn Minuten wie im Rausch geredet. Nach vorne gebeugt und mit rotem Kopf sitzt der 63-Jährige in einem Konferenzraum in Berlin-Mitte, es ist das Jahrestreffen der deutschen Busbranche.

Normalerweise stößt man hier auf die guten Geschäfte der Vergangenheit an und hofft auf bessere in der Zukunft. Hülsmann ist eigentlich ein ruhiger Mensch, Busunternehmer in dritter Generation. Ein Mann mit wohlrasiertem, weißem Bart und einem norddeutschen Singsang, der ihn immer etwas onkelhaft klingen lässt. Aber bei diesem Thema packt ihn die Wut. Er schimpft eine ganze Zeit vor sich hin, bis er schließlich mit der Warnung endet: „Wenn es so weit kommt, dann ist das Planwirtschaft.“

Zwei Plätze von ihm entfernt sitzt Hilmar von Lojewski, Dezernent des Deutschen Städtetages, dort zuständig für Stadtentwicklung und Verkehr. Sein freundlicher Blick verfinstert sich bei Hülsmanns Ausführungen zusehends. „Durch Unternehmer wie Sie werden die Städte in Verträge gezwungen, wo sie für eine ganze Dekade den Einfluss auf ihren Nahverkehr aufgeben“, kontert von Lojewski. Er hingegen wolle den öffentlichen Nahverkehr stärken. „Wer das nicht anerkennt, der muss sich fragen lassen, ob er die parlamentarische Demokratie verstanden hat.“

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Der Streit der beiden Herren steht stellvertretend für einen erbitterten Zoff, der derzeit in Dutzenden deutschen Städten ausgetragen wird: Kommunale und private Betriebe raufen sich um die Frage, wer den Nahverkehr in Deutschland künftig übernehmen soll. Vorbei die alte Arbeitsteilung, bei der sich die privaten Busunternehmer vornehmlich mit Überlandverkehren begnügten, die Städte hingegen mit kommunalen Gesellschaften ihren Nahverkehr abwickelten.

Stattdessen will jede Seite ihren Anteil an dem 13 Milliarden Euro schweren Markt ausbauen. Da drängen private Unternehmer mit dubiosen Geschäftsmodellen in die Städte – sagen die Kommunen. Kommunale Unternehmen wildern in ländlichen Regionen, nehmen den privaten Kutschern dort die angestammten Aufträge weg – sagen die Mittelständler.

Die größten Bahnhöfe Deutschlands
Dortmund – 130.000 Reisende und BesucherDer Dortmunder Hauptbahnhof wird Tag ein, Tag aus von 130.000 Reisenden und Besuchern benutzt. Dabei lässt der Zustand des Bahnhofs zu wünschen übrig. Die Eingangshalle wurde zwar vor wenigen Jahren modernisiert, auf den Gleisen und im Zugangsbereich hat sich jedoch nichts verändert. Und das, obwohl direkt gegenüber des Hauptbahnhofs das neue Fußball-Museum des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) gebaut wird.Alle Daten sind Durchschnittswerte aus dem Jahr 2012, Quelle: Deutsche Bahn Quelle: dpa Picture-Alliance
Ostbahnhof München – 138.000 Reisende und BesucherMünchen ist die einzige Stadt, die mit zwei Stationen unter den größten zwölf deutschen Bahnhöfen vertreten ist. Im Ostbahnhof fahren nicht nur Regional-, sondern auch Fernverkehrszüge ein. Das Empfangsgebäude wurde im Jahr 1985 neu gebaut – 138.000 Passagiere und Besucher betreten es täglich. Quelle: dpa
Nürnberg – 150.000 Reisende und BesucherDer Nürnberger Hauptbahnhof schafft es in die Top Ten der wichtigsten Bahnhöfe in Deutschland. Der Verkehrsknotenpunkt kommt auf 150.000 Reisende und Besucher täglich. Aufmerksamkeit erregte der Bahnhof zuletzt Ende 2012, als an Wochenenden und Feiertage ein nächtliches Alkoholverbot erlassen wurde. Quelle: dapd
Essen – 170.000 Reisende und BesucherEin ungewohntes Bild: An der Einfahrt zum Essener Hauptbahnhof finden derzeit Erkundungsbohrungen statt. Unter den Gleisen wurden Hohlräume gefunden, die auf Grubenarbeiten Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen sind. Die Hohlräume werden jetzt mit einem Zement-Kalkstein-Gemisch verfüllt, der Untergrund damit stabilisiert. Die meisten Fernverkehrszüge werden um Essen herum geleitet, alle anderen Züge müssen Schrittgeschwindigkeit fahren. Das führt zu großen Verspätungen. Das bekommen die 170.000 Menschen zu spüren, die den Bahnhof täglich nutzen. Quelle: dpa
Stuttgart – 240.000 Reisende und BesucherEine der bekanntesten Baustellen Deutschlands: der Stuttgarter Hauptbahnhof. Die Proteste gegen den Neubau „Stuttgart 21“ erschütterten das Ländle und erregten in der ganzen Bundesrepublik Aufsehen. Trotzdem wird der Bahnhof unterirdisch neu gebaut. Täglich nutzen 240.000 Reisende und Besucher den Baustellen-Bahnhof. Quelle: dpa
Düsseldorf – 250.000 Reisende und BesucherSo sieht es am Düsseldorfer Hauptbahnhof nicht immer aus: 2010 legte ein Unwetter den Bahnverkehr vorübergehend lahm. Normalerweise herrscht auf in dem rheinischen Verkehrsknotenpunkt hektisches Treiben. 250.000 Reisende und Besucher jeden Tag – nur auf sechs deutschen Bahnhöfen ist mehr los. Quelle: dpa
Hannover – 260.000 Reisende und BesucherEin ICE nach Berlin fährt in Hannover ein. Immerhin fahren seit Anfang November von der niedersächsischen Landeshauptstadt wieder Züge in Richtung Berlin. Fünf Monate nach dem Elbe-Hochwasser wurde die Strecke wieder freigegeben. Die Sperrung hatte viele Reisende hart getroffen – 260.000 gibt es davon im Hauptbahnhof von Hannover am Tag (inklusive Besucher der Bahnhofs). Quelle: dpa

So streitet man sich landauf, landab. Es geht um die Frage, wer wohl der bessere Unternehmer ist: Staat oder Privat. Es geht um den freien Binnenmarkt. Es geht um Gemeinwohl oder Eigennutz. Irgendwie geht es um uns alle – und dann doch wieder nur um Busse.

Hintertür aus Brüssel

Dabei hatte man sich das alles mal ganz anders gedacht. In Berlin, aber auch in Brüssel, wo man 2007 nach langem Ringen die EG-Verordnung 1370 auf den Weg brachte. Ziel des Gesetzes war es, einen europäischen Binnenmarkt im Nahverkehr herzustellen. Dafür sollten all diejenigen Verkehrsmärkte für den Markt geöffnet werden, auf denen Dienstleistungen von „allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ erbracht werden: Fernbuslinien, Bahnverbindungen, vor allem aber Nahverkehre.

Die Beförderung von Schülern und Senioren ist dabei eine Hauptaufgabe – und eine schwierige: Ihre Tickets sind stark bezuschusst, das Einsammeln von Kindern in spärlich besiedelten Gegenden lässt sich kaum gewinnbringend organisieren. Auch deshalb wollte die EU-Kommission mit der Verordnung 1370 sicherstellen, dass Länder und Kommunen Nahverkehrsunternehmen in Ausnahmefällen direkt beauftragen dürfen: ohne Ausschreibung, mit Subventionen für den Schülertransport und der Garantie, damit nicht mit Wettbewerbsrecht zu kollidieren. Diese Regel aber scheinen die Kommunen auszunutzen. 96 Prozent der Fahrleistung, so hat es der Busverband bdo ausgerechnet, gingen seither als Direktvergaben an kommunale Unternehmen.

Karl Hülsmann will dieses Verhältnis ändern, wenigstens in Oldenburg. Einige Wochen vor seiner Berliner Wutrede empfängt er auf einem seiner Betriebshöfe im ostfriesischen Varel. Stolz führt er durch die Werkstatthalle, in der gerade drei Linienbusse gewartet werden, zeigt die riesigen Dieseltanks unter der Erde, seine eigene Buswaschanlage, die nur mit Regenwasser und ohne Seife funktioniert, das spart Geld. Seit fast 90 Jahren ist seine Familie im Geschäft.

Nun hat sich Hülsmann vorgenommen, das nächste Kapitel Firmengeschichte zu schreiben. Im Sommer 2016 entdeckte er die Ankündigung der Oldenburger – gemäß EG-Verordnung 1370 –, ab 2018 den Nahverkehr wieder direkt an die städtische VWG geben zu wollen. Könnte das eine Gelegenheit sein, das Netz zu übernehmen?

Hülsmann nutzt dabei eine Besonderheit des deutschen Rechts. Denn die EU-Verordnung erlaubt zwar Direktvergaben. Allerdings hat die schwarz-gelbe Bundesregierung 2011 bei der Überführung der Verordnung in deutsches Recht verankert, dass „eigenwirtschaftlichen Anträgen“ der Vorrang zu gewähren sei vor solchen, die mit Zuschüssen kalkulierten. So sollte zumindest der Schein eines Wettbewerbs gewahrt werden, die Anforderungen dafür wurden jedoch so hoch gesetzt, dass am Ende keiner wirklich damit rechnete, dass es jemals solche Anträge geben würde. Die Entscheidung darüber, ob es einen Wettbewerb gibt, sollte damit allein bei den Kommunen liegen. Doch dann kam Pforzheim.

Präzedenzfall in Pforzheim schockt private Betriebe

Seit über 100 Jahren organisierte ein kommunaler Betrieb der baden-württembergischen Stadt den Nahverkehr. Reine Formsache also, als das Rathaus im Sommer vergangenen Jahres die Leistung ab 2017 neu ausschrieb. Man wollte einen Investor mit ins Boot holen, ansonsten sollte alles bleiben, wie es war. Doch es kam anders. Ein Tochterunternehmen der Deutschen Bahn stellte einen eigenwirtschaftlichen Antrag, gab an, ohne die jährlichen Millionenzuschüsse der Stadt auszukommen. Das Gesetz ist eindeutig: Wenn das jemand plausibel vorrechnet, bekommt er den Zuschlag. Das Regierungspräsidium Karlsruhe prüfte den Antrag und befand ihn für schlüssig.

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Duisburg Quelle: dpa
Platz 9: MünsterIn Münster ist der Anteil der Einpendler bei 49 Prozent deutlich größer als der der Auspendler. Deshalb liegt der Pendlersaldo bei satten 17 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet das, dass sich tagsüber rund 50.000 Menschen mehr in Münster aufhalten als in der Nacht, wo die Einwohnerzahl bei 302.000 liegt. Quelle: dpa
Essen Quelle: Dpa
Nürnberg Quelle: DPA/Picture-Alliance
Karlsruhe Quelle: DPA/Picture-Alliance
Bonn Quelle: Fotolia
Stuttgart Quelle: dpa Picture-Alliance

Für die SVP hieß das: Ihr werdet abgewickelt. Und für die 240 Mitarbeiter: Ihr seid entlassen. Ende Dezember ist Betriebsschluss. Ein Schreckensszenario für Bürgermeister und Gewerkschafter, was passiert, wenn der Wettbewerb über sie hereinbricht. Tatsächlich gibt es inzwischen eine ganze Reihe solcher Kämpfe: in Hildesheim, in Leverkusen, in Gotha oder Esslingen, in Diepholz und Hamm.

Die Argumente sind immer dieselben: Die Mittelständler versichern, schlanker aufgestellt zu sein und effizienter arbeiten zu können als die kommunalen Betriebe. Die Gewerkschaft Verdi prangert derweil die angeblichen Dumpinglöhne bei den Privaten an – und findet dafür Zustimmung in den Rathäusern.

Oldenburg steckt 2,67 Millionen Euro in den Nahverkehr

Dort will man die eigenen Unternehmen schützen. Mit ihnen können Stadräte flexibel neue Linien schaffen, wenn sie neue Wohngebiete oder Gewerbeflächen ausweisen. Sie können die städtischen Gesellschaften zwingen, die Schüler früher von der Schule abzuholen, wenn es der Stundenplan erfordert, oder auch mal spätnachts ein einsames Waldlokal anzufahren. Private bieten diese Flexibilität meist nicht. Für sie gilt nur der Dienstleistungsvertrag.

In Oldenburg etwa, wo Karl Hülsmann den Busverkehr übernehmen will, steckt die Stadt seit Jahren Millionen in den Nahverkehr. 2,67 seien es 2016, sagt die VWG.

Hülsmann dagegen will ohne Zuschüsse auskommen und dabei noch verdienen. Gerade haben er und seine drei Mitstreiter europaweit die Bestellung von 100 Bussen ausgeschrieben. „Ich setze doch nicht so viel Geld ein, wenn ich nicht glauben würde, dass es klappt“, sagt er. Die Strategie des Konsortiums: weniger Personal in der Werkstatt, weniger Disponenten, weniger Krankenstand und weniger aufwendige Technik im Bus – auch geringere Löhne für die Chauffeure, für die der hohe Verdi-Tarif nicht gilt. So haben sie kalkuliert, eine schwarze Null errechnet und das Ganze dann der niedersächsischen Landesnahverkehrsgesellschaft (LNVG) zur Genehmigung vorgelegt.

Es ist ein Wettbewerb nach unten, bei dem am Ende alle Beteiligten verlieren. Die Städte zwingt das neue Modell dazu, ihre Vergabe so unwirtschaftlich wie möglich zu gestalten, um eigenwirtschaftliche Anträge auszuschließen. Das treibt die Kosten in die Höhe. Die privaten Konkurrenten ihrerseits drängt es in höchstriskante Betreibermodelle, an deren Ende die Pleite stehen kann. Derzeit hängt die Effizienz des Stadtverkehrs daher allein von Menschen wie Rainer Peters ab. Er ist Sprecher der LNVG und muss sich seit Monaten mit Hülsmanns Antrag beschäftigen.

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Was, wenn die Privaten nach einigen Jahren feststellen, doch nicht ohne Subventionen auszukommen? Die städtische Gesellschaft wäre dann schon abgewickelt. Die Stadt müsste wohl oder übel zahlen. Deshalb prüft Peters Behörde sehr genau, wie belastbar die Kalkulation der Privaten ist. Offiziell spricht Peters zwar von einem „offenen Rennen“. Vieles aber deutet darauf hin, dass der Antrag wohl abgelehnt werden dürfte.

Auch im Oldenburger Rathaus geht man von diesem Szenario aus. Selbst wenn Hülsmann dann sein Recht vor Gericht einklagen sollte: Es würde Jahre dauern. So lange könnte die VWG fahren. Nach zehn Jahren würde dann eine neue Konzession vergeben – auf die sich alle neu bewerben müssten. Man hätte das Problem ausgesessen, Hülsmann stünde wieder ganz am Anfang.

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