Lieferando-Gründer Jörg Gerbig „Die Lieferdienst-Märkte sind teils überhitzt“

Lieferando-Gründer Jörg Gerbig Quelle: PR

Lieferando-Gründer Jörg Gerbig über den Hype um die 10-Minuten-Lieferdienste, die Trinkgeldkultur in Kanada, warum es so schwer ist, mit der Essens-Auslieferung Profit zu machen – und warum Lieferando es dennoch macht.

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Jörg Gerbig studierte Finanzen und Management an der privaten Wirtschaftshochschule im hessischen Oestrich-Winkel. Nach rund vier Jahren bei der Investmentbank UBS gründete er 2009 in Berlin den Online-Essensbestelldienst Lieferando. 2014 verkaufte er sein Unternehmen an den niederländischen Anbieter Takeaway. Beim heutigen börsennotierten Unternehmen Justeat-Takeaway (Umsatz: 2,4 Milliarden Euro) ist Gerbig COO. Mit der Marke Lieferando sind die Niederländer mit großem Abstand Marktführer in Deutschland, liefern hierzulande aber nur rund sieben Prozent aller Bestellungen selbst aus; in der Regel fungiert Lieferando lediglich als Plattform für die Bestellung, um die Lieferung kümmern sich die Restaurants meist selbst.

Herr Gerbig, der Börsengang des britischen Lieferdienstes Deliveroo war ein gewaltiger Flop. Ist das nun das deutlichste Zeichen für eine Blase der Essens-Bestell- und -Liefer-Plattformen?
Jörg Gerbig: Zumal ich den Gründer von Deliveroo auch persönlich kenne, tut es mir für ihn leid. Unabhängig von diesem IPO sind die Märkte momentan sehr volatil und teils überhitzt. Ich möchte hier nicht im Detail auf Marktbegleiter eingehen, aber kann gerne die generelle Marktentwicklung in unserer Branche der vergangenen Jahre erläutern.

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Gern.
Es gibt verschiedene Modelle, die Entwicklung des Sektors geht weit zurück. Takeaway.com ist im Jahr 2000 entstanden, wir haben Lieferando.de 2009 gegründet, beides war damals ein reines Marktplatzgeschäft. Wir haben nicht ausgeliefert, sondern nur Restaurants eine Plattform geboten. Takeaway ist anfangs nur organisch gewachsen. Gründer Jitse Groen hat externes Geld erst 2012 aufgenommen, um unter anderen kurz danach uns zu übernehmen. Und das Marktplatzgeschäft allein ist hochgradig profitabel, wenn man eine gewisse Skalierung geschafft hat. Der Anteil der Bestandskunden ist irgendwann so hoch, dass man damit seine Kosten mehr als decken kann. Wir sind in verschiedenen Märkten sehr profitabel damit, unter anderem in den Niederlanden und in England.

Heute aber liefern Sie auch aus. Und bauen das Geschäft damit sogar aus, wie Lieferando-Deutschland-Chefin Katharina Hauke kürzlich erzählt hat.
Das nenne ich die zweite Welle in diesem Geschäft. Erste Anbieter haben auf einmal mit der Auslieferung von Essen für Restaurants begonnen, die keine eigene Lieferflotte haben. Wir haben das beispielsweise in Deutschland bereits 2012 gemacht, waren aber anfangs skeptisch. Letztlich zeigte sich aber: Wir müssen das machen. Der Kunde möchte die Vielfalt. Wir waren trotzdem der Meinung, dass es schwer sein wird, die reine Auslieferung als eigenständiges Modell in Kontinentaleuropa profitabel zu bekommen. Das hat sich bis heute bestätigt. Die Verluste mancher Anbieter summieren sich auf hunderte Millionen von Euros pro Jahr. Wir haben ein Hybridmodel aus Marktplatz- und Logistikgeschäft. Kombiniert funktioniert das für uns. Aber die reine Logistik ist ein Zuschussgeschäft.

Warum machen Sie das trotzdem?
Es geht darum, Netzwerkeffekte aufzubauen. Die fangen an mit der Anzahl der Restaurants. Eine große Auswahl ist attraktiv für die Konsumenten, bewegt sie, häufiger und auf lange Sicht auch mehr zu bestellen. Davon profitieren unsere Restaurantpartner und Konsumenten, und indirekt auch wir. In Berlin haben wir Restaurants aller Art zur Auswahl. Der Kunde könnte theoretisch jeden Tag über uns bestellen, und immer etwas Neues essen. Hinzu kommt die Markenpräsenz: Man sieht – hoffentlich – jeden Tag unsere Lieferando-Kurierfahrer auf der Straße. Die Konsumenten prägen sich den Namen ein. Aber nochmal: Wenn man das Liefergeschäft isoliert betrachtet, decken wir selbst in Deutschland nicht mal die Personalkosten, sondern bezuschussen diese zugunsten der Restaurants.

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Konkret?
Die Fahrerkosten liegen bei uns in der Regel zwischen 15 und 20 Euro pro Stunde in Deutschland. Das setzt sich zusammen aus Gehältern plus Boni, Sozialabgaben, Urlaubsentgelt und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Hinzu kommen die Einstellungskosten, die Kosten für die Räder und die Ausstattung, sowie für den Betrieb. Auf der Umsatzseite stehen im Schnitt zwei Auslieferungen pro Stunde. Bei einem durchschnittlichen Warenkorb von etwa 20 Euro pro Bestellung erhalten wir in der Regel 30 Prozent Provision, wenn wir selbst ausliefern, also etwa 12 Euro pro Stunde. Selbst wenn man noch die Liefergebühren einrechnet, sieht man, wie schwierig es ist, auch nur die Personalkosten zu decken.

Wie könnten Sie das ändern?
Die drei wichtigsten Einflussfaktoren sind die Provision, die Lieferkosten und effiziente Abläufe. Man kann natürlich die Marge von 30 Prozent erhöhen. Aber das Meinungsbild in der Gastrobranche gibt wenig Raum für eine realistische Bepreisung. Alternativ könnten wir die Liefergebühren für Konsumenten erhöhen. Bei vier bis fünf Euro Liefergebühren hätte das Logistikgeschäft einen ähnlichen Rohertrag wie das Marktplatzgeschäft – dann dürften jedoch weniger Leute bestellen. Natürlich sind auch Effizienzsteigerungen möglich. Jedoch liefern die Fahrer im Schnitt bereits mehr als zwei Bestellungen pro Stunde aus. Bei Übernahme von Foodora im Jahr 2019 lagen die Lieferkosten bei ungefähr drei Euro. Damit machte Foodora ungefähr einen Euro Minus pro Bestellung auf Rohertragsebene, und auf Ebitda-Ebene sogar sieben Euro Minus pro Bestellung.

Vor Kurzem hat Lieferando die Liefergebühren in zahlreichen deutschen Städten wieder deutlich angehoben: auf 2,90 Euro.
Dies betrifft weniger als 0,5 Prozent aller Bestellungen, nur in kleineren Städten, in denen die Logistik besonders unprofitabel ist, oder für besonders weit entfernte Lieferdistanzen. Auch mit der dortigen Anpassung bleibt die Logistik zugunsten der Restaurants bezuschusst. Logistik und faire Löhne kosten Geld, und die Löhne haben wir in vielen Städten zum Jahreswechsel erhöht.

Was sind dann die Voraussetzungen für ein profitables Geschäft?
Langfristig kann es schon profitabel sein – primär im Zusammenspiel mit dem Marktplatzmodell. Ich vermute, unser Beispiel vom profitablen Bestell- und Lieferdienst stimuliert die Fantasie von Wagniskapitalgebern und zieht viel Geld in den Markt. Das bedeutet aber nicht, dass alle anderen Anbieter das auch so hinkriegen – vor allem jene, die alles selbst ausliefern.

„Die Kanadier geben deutlich mehr Trinkgeld“

Aber wir haben seit einem Jahr eine Pandemie, sehr gute Voraussetzungen für das Liefergeschäft. Stimmt der Satz nicht: Wer jetzt nicht bestellt, der bestellt nie?
70 bis 80 Prozent der Deutschen bestellen mehr oder weniger regelmäßig Essen – die meisten allerdings noch telefonisch. Im vergangenen Jahr haben etwa 17 Prozent bei uns bestellt – das entspricht einem Kundenwachstum von zwei Prozent statt der sonst üblichen ein Prozent pro Jahr. In England und den Niederlanden bestellen demgegenüber schon mehr als 30 Prozent aller potentiellen Kunden über uns. Ja, Corona hat einen positiven Effekt auf unser Geschäft, mit zehn bis 15 Prozent höheren Warenkorb-Werten. Das dürfte bei Wettbewerbern ähnlich sein – und trotzdem bleibt es es schwierig, profitabel zu werden.

Ihr Wettbewerber Delivery Hero weist für den Nahen Osten und Nordafrika ein operativ positives Geschäft aus.
In einigen Regionen sind die Lohnkosten viel niedriger als in Europa, und die Bereitschaft der heimischen Kunden, für Service Geld zu bezahlen, ist höher. Wir haben bei Just Eat Takeaway.com auch solch einen Sonderfall: In Kanada funktioniert unser Logistikgeschäft ohne Verluste. Auch dort haben die Leute eine andere Trinkgeldkultur.

Das heißt, Sie arbeiten in Kanada mit ihren Auslieferungen nur deshalb profitabel, weil die Kunden durch hohes Trinkgeld für den Lohn mit aufkommen? Wie hoch ist denn dort das durchschnittliche Trinkgeld?
Nicht nur, aber auch wegen des Trinkgelds. Die Kanadier geben deutlich mehr, so dass das Trinkgeld dort auch anteilig viel höher ausfällt, als etwa in Deutschland. Hier sind es pro Stunde nur rund zwei Euro. Eine weitere aufschlussreiche Vergleichsgröße ist die Anzahl der Bestellungen pro Restaurant: Marktplatz-Restaurants machen in Europa durchschnittlich zwei- bis dreimal so viele Bestellungen wie Restaurants, die ausschließlich durch externe Logistiker ausliefern lassen.

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Warum?
Marktplatz-Restaurants sind in der Regel auf das Bestell- und Liefergeschäft spezialisiert. Sie haben nicht die Kosten einer großen Bewirtungsfläche in hochpreisiger Lage mit entsprechendem Interieur und entsprechend höheren Betriebskosten. Das erleichtert ihnen einen rentablen Betrieb inklusive Logistik. Das hat schon vor Verbreitung des Internets funktioniert. Und sie bedienen einen größeren Lieferradius, können deutlich mehr Menschen ihr Angebot unterbreiten.

Apropos Lieferradius: Die neuesten Bringdienste wie etwa Gorillas und Flink versprechen Lebensmittel-Lieferung innerhalb von zehn Minuten – das aber auch nur in ausgewählten Stadtteilen der Großstädte.
Das ist die dritte Welle der Lieferdienste und für uns nicht zwangsläufig Kerngeschäft, nur eine potenzielle Markterweiterung. Es kann punktuell sinnvoll sein. In einigen Ländern kooperieren wir bereits mit Supermärkten, in Kanada etwa liefern wir für die Supermarktkette 7-Eleven. Interessanterweise sehen wir, dass die meisten Lebensmittelbestellungen zeitlich kurz nach dem Höhepunkt der Essensbestellungen bei uns eingehen. Die Leute bestellen sich also nach der Hauptmahlzeit nochmal Getränke und Snacks.

Also eine logische und lohnende Geschäftserweiterung?
Ich würde es nicht ausschließen, aber es hat derzeit keine Priorität für uns, da das Potential in unserem Kerngeschäft noch enorm ist. Die Frage ist auch: Wie können Lebensmittel profitabler sein als das Ausliefern einer Pizza mit ihrer hohen Rohertragsmarge von bis zu 80 Prozent? Lebensmitteln haben deutlich niedrigere Margen. Ich bezweifle, dass das profitabel funktioniert – zumindest nicht so, wie es momentan durchgeführt wird.

Wieso sind Sie da so sicher?
Die durchschnittlichen Warenkörbe sind ähnlich wie bei uns, die Kosten für Fahrer auch. Bei einer optimalen Auslastung werden die Fahrer auch nur zwei bis drei Fahrten pro Stunde machen. Die Lieferung dauert zwar nur zehn Minuten, hinzu kommt jedoch die Zeit beim Kunden und Sie müssen nach jeder Lieferung erst wieder zurück ins Lager. Also dürfte ein Fahrer rund 20 Minuten mit einer Bestellung beschäftigt sein und wartet danach potentiell noch auf seine nächste Bestellung. Und die Marge dürfte im Zweifel unter 30 Prozent liegen. Wenn man die Liefergebühren oder Produktpreise kostendeckend hochfährt, könnte es funktionieren - jedoch dürften mehr Konsumenten derartige Kleinstbestellungen dann doch im Supermarkt abholen. Alternativ ließen sich Bestellungen poolen, also gebündelt ausliefern. Aber dann werden die Lieferzeiten länger, und man braucht größere Fahrzeuge.

Wenn der Markt, wie Sie selbst sagen, überhitzt ist: Wie sieht der Markt dann aus nach Platzen der Blase?
Die Aktienmärkte sind auf einem Allzeithoch. Es ist sehr viel Geld im Markt, nicht nur in unserer Branche. Aber irgendwann wird das Geld wieder knapper. Spätestens dann rückt die Frage ins Zentrum, mit welchem Geschäftsmodell man wirklich Geld verdienen kann. Diese Frage ist aktuell nachrangig.

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Und dann? Verschwinden all die neuen Lieferdienste wieder?
Wenn Sie mir vor ein paar Jahren vorgeschlagen hätten, auch selbst auszuliefern, hätte ich davon abgeraten. Jetzt fließt viel Geld in genau dieses Geschäft. Der Trend zu Onlinebestellungen hält sicher an, aber man muss sich die Bestellvolumina, Margen und unit economics der Logistik genau anschauen. Als Gesamtgeschäft inklusive Marktplatzmodell funktioniert das Geschäft.

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