Der Zementhersteller Dyckerhoff ist wieder am Netz. Vor gut 15 Jahren wurde das Unternehmen vom Gütertransport auf der Schiene abgeschnitten. Seit etwa einem halben Jahr kann Dyckerhoff nun wieder Kies und Zement per Zug transportieren. „Der reaktivierte Gleisanschluss macht unseren Standort unabhängiger von den bestehenden Verkehrswegen“, sagte Stefan Woywadt, Leiter des Werks Amöneburg vor einigen Monaten. „So zeigte uns beispielsweise der sehr niedrige Stand des Rheins“ 2018, wie wichtig es sei, „auf alternative Transportwege zurückgreifen zu können.“ Und ohnehin: Der Gleisanschluss gebe dem Unternehmen die Möglichkeit, „einen umweltfreundlichen Transportweg“ zu nutzen.
So wie Dyckerhoff geht es vielen Großunternehmen in Deutschland. Sie suchen Anschluss an die Schiene, wollen Transporte vom Lkw auf den Zug verlagern - und sich klimaneutraler aufstellen. Doch der Transport über die Schiene ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Nicht in Deutschland.
Die Branche der Güterbahnen schlägt daher Alarm. Der Transportsektor sieht sich als wichtiger Taktgeber der Klimawende. Aber die Branche leidet unter teils mangelhaften Zuständen: fehlende Gleisanschlüsse, Stau auf der Schiene und Wettbewerbsnachteile gegenüber der Straße. Die Branche sendet daher einen Hilferuf an die Politik - und fordert deutlich mehr Geld für Investitionen in die Schiene. Dabei hat die Branche selbst viel Zeit für Verbesserungen vergeuden lassen - und Defizite teils selbst zu verantworten.
Die Ausgangslage ist komplex. Der Marktanteil des Schienengüterverkehrs am gesamten Gütertransport in Deutschland liegt bei rund 18 Prozent - und damit sogar niedriger als in den Vorjahren. Vor allem die Großindustrie wie Stahlhersteller, Chemieproduzenten und Autobauer nutzen Güterzüge. Ein Blick in die Historie lässt das Potenzial der Eisenbahn erahnen. 1950 lag der Anteil im so genannten Modal Split bei weit mehr als 50 Prozent. Die Zeiten haben sich geändert, klar, aber die Dimension zeigt den Bedeutungsverlust der Schiene.
Aus Sicht des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) müsste der Marktanteil der Schiene wieder deutlich steigen, allein um die Klimaziele der Bundesregierung zu erreichen. Gemäß Klimaschutzgesetz des Bundes müssen die Emissionen des Verkehrssektors bis 2030 deutlich sinken – bei gleichzeitigem Wachstum der Transportleistung insgesamt. „Dazu muss der Güterverkehrssektor einen wesentlichen Beitrag leisten und seine Emissionen entsprechend von 55 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2019 auf 31 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2030 senken“, heißt es in einem Gutachten des VDV, das der WirtschaftsWoche exklusiv vorliegt.
Es müsse gelingen, „heutige Verkehrsströme im Straßengüterverkehr konsequent auf den klimafreundlichen Verkehrsträger Schiene“ zu verlagern, heißt es in dem Papier, das von Beratern von Roland Berger geschrieben wurde. Ziel sei ein Modal Split von 25 Prozent bis 2030 - sieben Prozentpunkte mehr als 2020. „Der Gesamtfinanzierungsbedarf des Schienengüterverkehrs für die Realisierung dieses Szenarios beläuft sich auf rund 52 Milliarden Euro im Zeitraum bis zum Jahr 2030“, heißt es in dem Gutachten.
32 Milliarden Euro davon entfalle auf den Ausbau der Infrastruktur für den Schienengüterverkehr, insbesondere für zusätzliche Gleise bei Unternehmen, Anlagen und Serviceeinrichtungen für die Verlagerung der Container von Lastwagen auf den Zug. Neue Loks und Güterwagen würden weitere neun Milliarden Euro kosten. Die Umsetzung der Investitionen würde selbst elf Milliarden Euro verschlingen.
Den Großteil der Investitionen würde der Staat übernehmen müssen. Das Papier setzt den staatlichen Anteil bei 38 Milliarden Euro an - deutlich mehr als für die Schiene im Haushalt des Bundes eingeplant. „Insgesamt ergeben sich für den Bund in diesem Szenario circa 38 Milliarden Euro Finanzierungsbedarf, also 17 Milliarden Euro mehr, als eine fortgeschriebene Haushalts- und Finanzplanung des Bundes ergäbe (21 Milliarden Euro).“ Die Branche selbst würde circa 13 Milliarden Euro beisteuern, „das heißt rund ein Viertel des Gesamtbedarfs.“ Zu den Aufgaben der Branche gehörten etwa neue Züge sowie betriebliche Verbesserungen.
Der Zeitpunkt des Papiers ist nicht zufällig gewählt. Kurz nach der Bundestagswahl positionieren sich Verbände mit ihren Forderungen. Die Güterbahnen können zumindest auf breiter Front auf Unterstützung hoffen. Die SPD hatte der Schiene in ihrem Zukunftsprogramm für die Bundestagswahl einen „Schwerpunkt unserer verkehrspolitischen Agenda“ eingeräumt. „Den Schienengüterverkehr wollen wir ausbauen und modernisieren.“ Auch die Union verspricht „mehr Güterverkehr von der Straße auf die Schiene und auf die Wasserstraße zu verlagern“. Geplant sei etwa, „den kombinierten Verkehr mit multi-modalen Terminals" auszubauen.
Die Grünen fordern „weniger Lkw-Verkehr“ und mehr Güterverkehr auf der Schiene. „Dafür werden wir die Kombination von Straße, Schiene und Wasser ertüchtigen und Industrie und Gewerbe wieder ans Bahnnetz anschließen – auch in der Fläche“, heißt es in dem Wahlprogramm der Grünen. „Wir fördern Investitionen in moderne Güterverkehrstechnik, intermodale Güterverkehrszentren und Umschlagterminals für den kombinierten Güterverkehr." Auch die FDP spricht davon, „mehr Personen und Güter auf der Schiene zu transportieren“.
Da sich im Kern alle einig sind, hofft die Branche auf zusätzliche Milliarden-Investitionen in die Infrastruktur – und schlägt ein 100-Tage-Programm vor, um die Verlagerung der Transporte auf die Schiene zu beschleunigen. Dazu gehöre etwa eine „Mautbefreiung für den Vor- und Nachlauf des Kombinierten Verkehrs“ (KV), heißt es in dem Gutachten. Bei der Planung neuer Gewerbegebiete sollte „ab einer zu definierenden Größe zukünftig die Prüfung auf Möglichkeit von Gleisanschlüssen rechtlich zwingend erfolgen“. Da Lokführer die Sprache des Transportlandes sprechen müssten, sollte im Grenzverkehr über eine Lockerung nachgedacht werden. „Mittelfristig ist europaweit eine einheitliche Verkehrssprache vorzusehen.“ Außerdem sollte die EEG-Umlage für den Schienenverkehr weiter abgesenkt werden.
Gleichwohl müssen auch die Güterbahnen selbst deutlich attraktiver werden. Roland Berger fordert „einen erheblichen Teil der Finanzierung“ durch die Unternehmen der Branche, insgesamt rund 13 Milliarden Euro. Neben Loks und Waggons sei die Zugangsinfrastruktur wie Gleisanschlüsse wichtig. Bei Dyckerhoff in Wiesbaden wurde der Anschluss etwa durch die Güterbahn RheinCargo ermöglicht. Außerdem fordert Roland Berger Angebots- und Prozessverbesserungen, das heißt "Innovationen und Qualitätsverbesserungen“, die mittelfristig für eine bessere Leistung sorgen müssten.
Das ist offenbar auch bitter nötig. Großkunden waren in der Vergangenheit nicht immer zufrieden mit der Qualität der Güterbahnen. „Es kann durchaus sein, dass einzelne Güterwagen mal zwei, mal bis zu sechs Tage unterwegs sind – und zwar durch Deutschland“, sagte Thomas Bronnert, Logistikchef von Wacker Chemie, der WirtschaftsWoche. “Diese Probleme gibt es vor allem beim Einzelwagenverkehr.„ Laut Roland Berger soll der Staat auch in diesem Segment unterstützen, „um die Zeit zu überbrücken, bis der Einzelwagenverkehr durch Digitalisierung und Automatisierung modernisiert und reinvestitionsfähig aufgestellt ist“, heißt es in dem Gutachten. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Der Einzelwagenverkehr arbeitet noch immer analog und mechanisch – da hat jemand wohl auch seine Hausaufgaben nicht gemacht.
Mehr zum Thema: Theoretisch spricht fast alles für den klimafreundlichen Gütertransport auf der Schiene. Doch in der Praxis läuft viel auf deutschen Gleisen schief. Beobachtungen aus dem Führerhaus einer dysfunktionalen Planwirtschaft.