Neues Dax-Unternehmen Wie Delivery Hero Lateinamerika aufrollt

Beim Einstieg in Lateinamerika bewies Delivery Hero gutes Timing und die richtige Strategie. Quelle: imago images

Lateinamerika ist in der Coronakrise zum dynamischsten Wachstumsmarkt für Delivery Hero weltweit geworden. Der Dax-Neuling muss dort Marktführer werden, um sein weltweites Expansionstempo hoch zu halten. Doch dem Berliner Unternehmen fehlen zwei wichtige Länder – und Wettbewerber setzen erfolgreich auf „dark kitchen“.

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Es sind meist junge Männer, durchschnittlich 22 Jahre alt. Sie haben oft die Schule abgebrochen, aber besitzen einen Motorradführerschein. Sie wohnen in der armen Peripherie der Metropolen Brasiliens, sind aber in den Geschäftsvierteln und Wohngebieten der Mittelschicht unterwegs. Sie arbeiten meist sieben Tage die Woche, neun Stunden am Tag. Sie fahren Essen aus und legen dafür am Tag rund 60 Kilometer zurück. Sie verdienen 900 Real, das sind rund 150 Euro – im Monat. Ihr Motorrad, Versicherungen, das Benzin, müssen sie selbst bezahlen. „Es ist die reine Ausbeutung“, sagt Marcos Alves von der Gewerkschaft der autonomen Fahrer AMABR.

Doch diese in Lateinamerika geschätzt rund eine Million Fahrer mit prekären Arbeitsbedingungen auf 125ccm-Mopeds - sie sind die Basis des Geschäftsmodells einer technologiegetriebenen, disruptiven Branche: Die App-Lieferdienste. Derzeit blickt die Branche auf Lateinamerika. Denn in der Coronakrise, die dort zwar spät, aber heftig zugeschlagen hat, sind die Bestellungen für Essensauslieferungen regelrecht explodiert. Lateinamerika ist die am schnellsten wachsende Region für die Branche außerhalb von Asien-Pazifik geworden, beobachtet der Marktforscher Euromonitor.

Beim deutschen Lieferdienst Delivery Hero haben seit Mitte März die Bestellungen an den 40 Standorten weltweit um 24 Prozent zugelegt. Aber in Lateinamerika stiegen die Orders um 58 Prozent, deutlich mehr auch als in Asien.

von Angela Hennersdorf, Alexander Busch, Matthias Hohensee

Für das neue Mitglied im Dax steht in Lateinamerika viel auf dem Spiel: Seine Zukunft als Weltkonzern entscheidet sich nicht in Europa, sondern in den Wachstumsmärkten wie Lateinamerika. Dort zeigen sich die Herausforderungen besonders deutlich: Die Berliner müssen sich gegen harte Konkurrenz durchsetzen und zugleich Behörden und Gewerkschaften besänftigen. Gelingt das, sind die Voraussetzungen nicht nur in Lateinamerika besonders gut, ein starkes Geschäftsmodell zu entwickeln. Das können sie auch in anderen Weltregionen anwenden.

Bei ihrem Einstieg in der Region bewiesen sie gutes Timing und die richtige Strategie: 2014 kauften sie PedidosYa, das von Uruguay aus Argentinien erobert hatte. Dessen Gründer Ariel Burschtin blieb als CEO am Ruder und expandierte weiter mächtig in Lateinamerika. PedidosYa ist heute Marktführer in sieben Ländern der Region. Vor drei Wochen hat PedidosYa ein zweites Büro in Montevideo für 500 Mitarbeiter eröffnet, inmitten der Pandemie und passend zu den Eigentümern aus Berlin, an der Plaza Alemania. Für Burschtin stehen die Lieferdienste in der Region erst ganz am Anfang. In Lateinamerika gäbe es eine Marktdurchdringung der Lieferdienste von vier bis sechs Prozent, einige wenige Länder erreichten 15 Prozent, schätzt der 32-jährige. „Unser Ziel ist es wie China zu werden“, sagt er: „So viele Aufträge im Monat wie Einwohner.“

Doch das wird nicht einfach. Auch die Konkurrenz hat mitbekommen, wie perfekt die Lieferdienste zu den Bedürfnissen der lateinamerikanischen Konsumenten passen. Die leben bereits größtenteils in Städten. Dort lassen die verstopften Straßen der Metropolen und die hohe Kriminalität die Menschen immer mehr Zeit zu Hause verbringen und weniger ausgehen. Die intensiven Handynutzungen und digitale Affinität der vielen jungen Menschen sind ein Plus. Die 650 Millionen Menschen geben lieber ihr Geld aus, als zu sparen. Auch die noch aus der Kolonialzeit stammende Kultur, sich bedienen zu lassen, passt perfekt zu den Lieferservices. Die Pandemie hat diese Prozesse beschleunigt.

In Lateinamerika treffen die westlichen globalen Liefer-Anbieter wie Uber Eats (USA), Just Eat Takeaway oder Prosus (beide Niederlande) auf starke lokale Gruppen, die sie teilweise übernommen haben. Die Lage ist höchst unübersichtlich: So wird etwa iFood – stark in Brasilien – von Prosus, der Tochter des südafrikanischen Medienkonzern Napsters kontrolliert. Prosus wiederum ist auch der größte Aktionär bei Delivery Hero. Die Berliner wiederum sind mit 20 Prozent an Rappi aus Kolumbien beteiligt. Es ist weltweit ihre bedeutendste Beteiligung. Doch auch in Kolumbien machen sie sich selbst mit einer anderen Kette („Domicilios“), an der ihr 49 und iFood 51 Prozent gehören, ebenfalls Konkurrenz. Kein Zweifel: Der stark wachsende, aber zersplitterte Markt in Lateinamerika steht vor einer neuen Konsolidierungswelle.

Das Problem von Delivery Hero: Das Unternehmen ist weder in Mexiko noch in Brasilien aktiv. Diese beiden Länder machen aber zusammen knapp zwei Drittel der Kaufkraft in der Region aus. Das heißt eigentlich: Sie werden in Lateinamerika Schwierigkeiten bekommen können, wenn sie nicht über Fusionen oder Übernahmen in diese Märkte eindringen.

Alle Anbieter versuchen derzeit, ihre Geschäftsmodelle über Essenslieferungen auszuweiten und sich damit wertvoller zu machen: Die Delivery Hero-Beteiligung Rappi aus Kolumbien ist da ziemlich weit vorangekommen. Das erst 2015 gegründete Start-up ist eines der ersten Dutzend Einhörner Südamerikas, also mehr als eine Milliarde Dollar wert. Rappi – von rapido, schnell in Spanisch – bietet inzwischen auch alle mögliche Dienstleistungen an: Wer einen Haarschnitt braucht oder einen neuen Küchenstuhl – der kann bei Rappi fündig werden, „wie die Tante oder der Freund, die Tag und Nacht bereitstehen, dir einen Gefallen zu tun oder aus einer Klemme zu helfen“, beschreibt Gründer Simon Borrero sein Konzept.

„Dark kitchen“

Derzeit investieren Rappi aber auch der Marktführer iFoods in hunderte von sogenannten „dark kitchen“. Das sind Industrieküchen, die genau die Speisen liefern, für die die Algorithmen der Lieferdienste eine potenzielle Nachfrage festgestellt haben. Wenn ein Thai-Food-Restaurant in einem Stadtteil fehlt, dann investiert die Food App alleine oder zusammen mit einem Gastronom in eine solche Industrieküche, die aber auch bei Bedarf künftig Tacos, Pizza oder Sushi liefern kann. Der Sinn der kapitalintensiven Investments: Mit sinkenden Kosten der Essensproduktion bleibt mehr von der Marge für den Lieferdienst übrig.

Delivery Heros Tochterunternehmen PedidosYa hat in der Pandemie sein Marketing angepasst: Für Klinikpersonal verteilt PedidosYa täglich Gutscheine für kostenloses Essen. Während des strengen lockouts hat der Dienst eine Hotline für über 70-jährige eingerichtet, die nicht mit dem Smartphone vertraut sind. Zudem liefert der Dienst jetzt Medikamente aus Apotheken und Lebensmittel aus eigenen Supermärkten („Cloud Stores“). Personal shopper stellen die Order zusammen und sollen in 30 Minuten nach Bestellung beim Kunden landen. Viele, kleine Orders und vor allem schnelle Lieferungen sind das Ziel. „Quick Commerce“ nennt Delivery Hero diese weitere Stufe der Lieferdienste.

Die Delivery-Branche ist ein „winner-take-all market“, also ein Markt, in dem das dominierende Unternehmen profitabel arbeiten kann, aber nicht mehrere Anbieter gleichzeitig. Alle die genannten Unternehmen fahren weiterhin große Verluste ein. Gleichzeitig versuchen aber immer wieder neue Anbieter Fuß zu fassen, wie etwa Uber Eats. Es stehen genügend Finanzinvestoren zur Verfügung, die in die Delivery-Branche investieren wollen.


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Die Erfahrung zeigt, dass in Ländern, in denen sich ein Marktführer etabliert hat, die Gebühren steigen, welche die Restaurants an den Dienst bezahlen müssen. Bis zu 30 Prozent berechnen die dominierenden Anbieter den Restaurants etwa in Argentinien. Bei harter Konkurrenz in Brasilien etwa sind es nicht mehr als 15 Prozent.

Kein Wunder, dass in Lateinamerika der Widerstand gegen die App-Lieferdienste zunimmt. In Argentinien und Kolumbien ermitteln die Behörden wegen irreführender Werbung, unfairer Geschäftspraktiken und fehlenden Datenschutzes. Auch der Einzelhandel und die Supermarktketten beschweren sich über den unlauteren Wettbewerb. „Wir haben 100.000 Mitarbeiter, die fest angestellt sind und 15 Prozent mehr verdienen als sonst üblich“, sagt Juan Vasco Martínez vom Verband der Supermärkte in Argentinien (ASU) und sieht die nicht angestellten App-Fahrer, die zu Hungerlöhnen arbeiten, als unfaire Konkurrenz. „Wir wollen gleiche Bedingungen für alle.“

Für die Restaurants sind die Delivery-Apps überlebensnotwendig geworden in der Pandemie. Andererseits klagen sie nicht nur über die hohen Gebühren: Sie verlieren durch die Vermittlung immer mehr den direkten Kontakt zu ihren Kunden. Die Daten und damit das Wissen über deren Gewohnheiten – die sammeln die App-Lieferdienste ein und können sie nutzen.

Druck machen jetzt vor allem die Fahrer, die sich mehrfach in den letzten Monaten zu Streiks in Lateinamerika versammelt haben. Ihre Forderungen scheinen moderat: Feste Kilometerpauschalen, die nicht von unsichtbaren Algorithmen gesteuert werden. Keine grundlosen Sperrungen der App. Versicherungen für die Motorräder gegen Überfall und Unfall. Kostenlose Masken, Alkohol zum Desinfizieren. Bisher reagieren die Lieferdienste mit eher ausweichenden Statements.

Die stets verfügbaren, billigen Arbeitskräfte auf den Motorrädern sind existenziell für ihr Geschäftsmodell. Zu diesem Schluss kamen die Experten der UBS in einer Analyse („Is The Kitchen Dead?“) schon vor zwei Jahren: Gesellschaften mit einem hohen Gini-Koeffizienten – also großen Einkommensgegensätzen - wie in Lateinamerika würden sich besonders für die Lieferdienste eignen. Diese benötigen einen gut gefüllten Pool an billigen Arbeitskräften. Das gäbe es weniger in wohlhabenden Mittelschichtsgesellschaften wie in Europa.



Noch haben die Motorradfahrer wenig Durchsetzungskraft. Auch wenn tausende Fahrer in den Städten Lateinamerikas protestierten, kam es bisher kaum zu Verzögerungen bei den Auslieferungen. Der Grund: Es gibt genug arbeitslose Fahrer, die die Chance nutzten und für ihre demonstrierenden Kollegen einsprangen.

Doch das könnte sich bald ändern: Gewerkschaften, Parteien und Politiker beginnen sich in allen Ländern für die Rechte der Fahrer einzusetzen. Deren Stimmenpotenzial lockt die Politprofis. Die Demonstrationen seien ein Zeichen, dass der Branche Veränderungen bevor stünden, sagt Franklin Lacerda Forschungsdirektor des Instituts Estudos da Análise Econômica Consultoria in São Paulo. „Das könnte das Geschäftsmodell der Branche verändern.“

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