Vielleicht kam das Virus über eins der Schiffe, heißt es in China. Vielleicht hat sich der Hafenarbeiter bei der Besatzung der Ozeanriesen angesteckt. Untersuchungen dazu haben die chinesischen Behörden schon angekündigt. Seitdem Mitte August ein 34-jähriger Hafenarbeiter trotz Impfung mit dem chinesischen Impfstoff Sinovac positiv auf das Coronavirus getestet worden ist, gilt in Ningbo-Zhoushan Ausnahmezustand. Für die chinesische Regierung ist jeder Coronafall ein Fall zu viel. Und so stellte das Hafenterminal, an dem der 34-Jährige arbeitete, seinen Betrieb unverzüglich ein. Seit über einer Woche dürfen dort keine Schiffe mehr anlegen. Und bis zum 6. September soll das auch noch so bleiben.
Damit hat der Ausbruch des Coronavirus in Ningbo-Zhoushan die nächste Großstörung für den Welthandel ausgelöst. Container stecken im Terminal fest, anderswo stauen sich bereits die Häfen, Schiffe und Lastwagen werden umgeleitet. Aber all diese Maßnahmen können die Auswirkungen auf den weltweiten Handel nur abmildern. Nach der Blockade des Suezkanals Ende März und einem ähnlichen Fall im Hafen von Yantian ist das schon der dritte Engpass in den weltweiten Lieferketten in nur sechs Monaten.
Die Schifffahrt befindet sich im Ausnahmezustand. Bereits seit Beginn der Coronapandemie sind die Lieferketten gestört, die Schiffe sind verspätet, die Häfen verstopft, die Frachtraten haben sich vervielfacht. Weltweit klagen Unternehmen über Rohstoffmangel und Engpässe bei den Transportkapazitäten. Laut einer aktuellen Umfrage sind allein in Deutschland 83 Prozent aller Unternehmen von Preissteigerungen und Materialengpässen betroffen.
Eine weitere Störung kann da wirklich niemals gebrauchen - erst Recht nicht in Ningbo-Zhoushan. Der Hafen hat gewaltige Ausmaße, erstreckt sich über verschiedene Städte und Inseln. Gemessen am Containerumschlag ist der Hafen nach Shanghai und Singapur zwar nur der drittgrößte der Welt. Doch an den Terminals werden auch Öl, Kohle oder Getreide umgeschlagen. Mit knapp 1,2 Milliarden Tonnen Fracht im Jahr gilt Ningbo-Zhoushan deshalb als verkehrsreichster Umschlagsplatz der Erde.
Seine Geschichte reicht über Jahrhunderte zurück, bis ins Jahr 738. Ningbo liegt südlich von Shanghai, die Gewässer sind durch vorliegende Inseln geschützt und für Schiffe gut befahrbar. Außerdem münden hier die Flüsse Qiantang und Yong. Schon vor tausend Jahren galt Ningbo deshalb als eine der wichtigsten Hafenstädte Chinas. Diesen Ruf eroberte sich die Region seit der Jahrtausendwende wieder zurück. 2006 fusionierte der Hafen von Ningbo mit dem Areal auf der vorgelagerten Insel Zhoushan. Seitdem hat sich der Containerumschlag beinahe verdreifacht.
Zwar ist nur ein Teil des gewaltigen Hafenkomplexes von der Schließung betroffen. Das Meidong Terminal, wo der Erkrankte arbeitet, liegt auf der kleinen Insel Meishan östlich von Ningbo und damit in sicherem Abstand zu anderen Terminals, wo der Betrieb weiter laufen soll. Trotzdem sind die Auswirkungen auf den internationalen Verkehr gravierend. Das Meidong Terminal hat im vergangenen Jahr über 5,4 Millionen Container umgeschlagen und damit etwa zwanzig Prozent aller Container im Hafen, berichtet die Zeitung „South China Morning Post“. Zum Vergleich: Der Hamburger Hafen kam im vergangenen Jahr auf 8,5 Millionen Container, Bremerhaven ist sogar kleiner.
„Eine anhaltende Schließung könnte eine Dynamik entwickeln, welche die ohnehin schon angespannten Lieferketten und Warenströme zusätzlich belasten würde“, sagt deshalb Riccardo Kurto, China-Beauftragter des Bundesverbands für Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME). Dabei hat die Schifffahrt die wochenlangen Einschränkungen beim Hafen Yantian nahe der Industriemetropole Shenzhen bis heute kaum verkraftet. Auch dort hatten sich Ende Mai Arbeiter mit dem Coronavirus angesteckt, der Hafen schloss darauf ein Terminal komplett und reduzierte den Betrieb am zweiten Terminal. Auf eine Umfrage des BME antworteten damals 64 Prozent der Unternehmen in Deutschland, dass sie direkt von dem Hafenstau in Yantian betroffen seien.
Damals stauten sich vor Yantian die Schiffe. Nun versuchen die Reeder schlauer zu sein und auf andere Terminals auszuweichen oder den Hafen gleich auszulassen. Doch auch vor anderen Terminals und vor dem benachbarten Hafen von Shanghai reihen sich die Schiffe bereits in Warteschlangen ein.
Die Reederei Hapag-Lloyd etwa warnt seine Kunden vor Staus und Verzögerungen „da die für Meishan vorgesehenen Schiffe nun in andere Terminals in Ningbo umgeleitet werden.“ Vier Schiffe der Reederei sollen den Hafen aktuell nicht anfahren. Kunden bietet die Reederei an, ihre Container statt nach Ningbo nach Shanghai zu bringen. Damit ist Hapag-Lloyd noch verhältnismäßig wenig betroffen. Die Reederei CMA CGM, die regelmäßig das Terminal auf Meishan anfährt, muss mindestens 14 Schiffe umleiten. Bis auf Weiteres bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Container ihrer Kunden dort stehen zu lassen. Bis zu eine halbe Million Container könnten sich in dem Terminal binnen Wochen ansammeln, schätzt Patrick Lepperhoff von der Logistikberatung Inverto. Vor allem Elektronikartikel dürften dort lagern.
Der Zeitpunkt ist ungünstig. Üblicherweise bauen Händler in Europa und Nordamerika bereits im späten Sommer ihren Lagerbestand für die heiße Shoppingsaison im November und Dezember auf. „Sollte das Terminal länger geschlossen bleiben, werden wir das hierzulande im Weihnachtsgeschäft merken“, warnt Lepperhoff.
Schon vorher hatten es die Händler und Einkäufer schwer, für ihre Weihnachtswaren Transportplätze zu bekommen. Wegen der anhaltend hohen Nachfrage nach Schiffstransporten sind die Schiffe verspätet und ausgebucht, die Häfen sind ebenso verstopft. Auf der Route von Shanghai nach Hamburg waren die Containerschiffe im Juni bereits durchschnittlich um etwa acht Tage verspätet. Nun dürften sie noch mehr Verspätung sammeln.
Auch für die chinesische Wirtschaft ist der anhaltende Betriebsstopp in einem der wichtigsten Umschlagspunkte des Landes deshalb nicht einfach zu verkraften. Über Ningbo-Zhoushan bezieht auch Ostchina einen Teil seiner Rohstoffe. Und auch die chinesischen Fabriken und Hersteller können wegen Containermangels und Hafenstaus weniger verkaufen. Doch deshalb dürfe man nicht erwarten, dass die Behörden ihr Vorgehen schnell ändern, sagt Lepperhoff. „Die Virusbekämpfung hat in China oberste Priorität, alles andere steht hinten an.“
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