Es war ein höchst ungewöhnlicher Auftritt der Ministerpräsidentin. Mehr als vier Stunden lang besuchte Malu Dreyer am gestrigen Mittwoch den Nürburgring. Ein kräftezehrendes Programm für die rheinland-pfälzische Regierungschefin, die an Multipler Sklerose leidet. Im Rollstuhl ließ sich die SPD-Politikerin durch die örtliche Fabrik von Capricorn fahren, dem Düsseldorfer Mittelständler, der im März den Zuschlag für die Rennstrecke erhielt. Derart lange Besuche statten Politiker Firmen, Vereinen und Verbänden nur selten ab: Dreyer besuchte auch Capricorns Mitbieter Getspeed, besichtigte den Ring selbst, nahm an einer Betriebsversammlung teil, diskutierte mit Menschen aus der Region – und rührte kräftig die Werbetrommel.
„Ich glaube, dass wir eine echte Chance haben, am Ring strukturell etwas zu bewegen“, sagte die Ministerpräsidentin bei ihrem Capricorn-Besuch. Gleich zwei Pressetermine absolvierte sie, um für die neuen Eigentümer und dessen Konzept zu werben. „Der Nürburgring blickt nun mit dem neuen Investor in eine neue Zukunft“, erklärte Dreyer, „ich wünsche den neuen Nürburgring-Eigentümern, dass die positive Stimmung weiter anhält und ich wünsche ihnen die notwendige Kraft für diese große Herausforderung.“ Dass sie dafür mit der mehrstündigen PR-Offensive selbst einen Kraftakt meistern musste, nahm Dreyer in Kauf – was logisch ist, aber auch riskant.
Logisch, aber auch riskant
Logisch ist ihr Engagement, weil für Dreyers SPD am Ring immens viel auf dem Spiel steht. Die Rennstrecke in der Eifel ist ein Ort von Triumphen und Tragödien, für die Sozialdemokraten in Rheinland-Pfalz gilt Letzteres ganz besonders. Mehr als eine halbe Milliarde Euro hat das Land Rheinland-Pfalz am Nürburgring investiert, den Großteil davon zwischen 2006 und 2011, als der langjährige Ministerpräsident Kurt Beck eine SPD-Alleinregierung anführte. Dreyers Amtsvorgänger und Parteifreund wollte mit einem 2009 eröffneten, 330 Millionen Euro teuren Business- und Freizeitkomplex den Nürburgring vom Motorsport unabhängiger machen, doch genau diese Investitionsruinen führten den Ring in den Bankrott. 2012 meldete die weitgehend landeseigene Nürburgring GmbH Insolvenz an.
Das Nürburgring-Desaster
Die legendäre Rennstrecke in der Eifel ist für ihre Eigentümer seit Jahren ein Millionengrab. Die Nürburgring GmbH – sie gehört zu 90 Prozent das Land Rheinland-Pfalz und zu zehn Prozent der Landkreis Ahrweiler – ist seit 2006 bilanziell überschuldet und kann sich nur dank immer neuer Landes-Millionen über Wasser halten. Haupt-Verlustbringer ist die Formel 1, die von 2003 bis 2009 ein Loch von 55 Millionen Euro in die Kasse riss. Für das Rennen 2011 kalkuliert das Land mit einem Minus weiteren 13,5 Millionen Euro. Der Landesrechnungshof geht von höheren Kosten aus.
Um aus den Miesen zu kommen, wollten der damalige Nürburgring-Geschäftsführer Walter Kafitz (SPD) und die damalige SPD-Alleinregierung von Kurt Beck mit dem riesigen Erlebnispark „Nürburgring 2009“ zusätzliche Besucher anlocken. Die Einnahmen sollten die Verluste aus der Formel 1 decken. Der Park besteht aus zwei Bauabschnitten: Die Nürburgring GmbH baute ein Erlebniszentrum mit Rennsportmuseum (Ringwerk), eine Achterbahn, eine überdachte Shoppingmeile (Boulevard) sowie zwei Veranstaltungshallen. Der zweite Abschnitt, entwickelt von Kai Richters Firma Mediinvest, umfasst zwei Hotels mit Personalwohnhaus, einen Ferienpark und das Eifeldorf „Grüne Hölle“, in dem sich eine Disco und diverse Restaurants befinden.
Die Baukosten stiegen von ursprünglich geplanten 215 auf 330 Millionen Euro. Der erste Bauabschnitt sollte zur Hälfte, der zweite komplett privat finanziert werden. Bei der Suche nach Investoren für den ersten Bauabschnitt fielen Land und Nürburgring GmbH auf dubiose Finanzvermittler herein. Die für den zweiten Bauabschnitt zuständige Firma Mediinvest von Kai Richter erhielt 85,5 Millionen Euro von der Rheinland-Pfälzische Gesellschaft für Immobilien und Projektmanagement mbH (RIM). Die ist eine hundertprozentige Tochter der Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB), welche wiederum zu hundert Prozent dem Land gehört. Die MSR wurde später mitsamt der Gebäude von Landesgesellschaften übernommen.
Ab Mai 2010 vergab die Nürburgring GmbH den Betrieb des kompletten Parks inklusive der Rennstrecken an die private Nürburgring Automotive GmbH (NAG), die je zur Hälfte Kai Richters Mediinvest und der Düsseldorfer Lindner-Hotelgruppe gehört. Im Februar 2012 kündigte das Land den Betreibern wegen ausstehender Pachtzahlungen. Die NAG geht juristisch gegen die Kündigung vor. Nach ihrer Sicht der Dinge schuldet das Land den Betreibern noch Geld, diese Forderungen habe man mit der Pacht verrechnet. Streit gibt es um die von den Betreibern angekündigte Entlassung von einem Viertel der Belegschaft. Die EU-Kommission prüft nach mehreren Beschwerden von Konkurrenten, ob das Land bei der Verpachtung an die NAG gegen Vergaberecht verstoßen hat.
Die erhofften Besuchermassen bleiben aus. Die als schnellste der Welt geplante Achterbahn funktioniert bis heute nicht. In der „Grünen Hölle“ ist von Oktober bis März nur ein einziges Restaurant durchgängig geöffnet, der Rest ist die meiste Zeit dicht. Das Land wirft den Betreibern zudem vor, die Gebäude vernachlässigt zu haben. In mehreren Restaurants ist Schimmel aufgetreten. Der Landesrechnungshof schätzt den zusätzlichen Investitionsbedarf des Landes in den nächsten 20 Jahren auf bis zu 420 Millionen Euro.
Wegen ihrer Rolle bei der gescheiterten Privatfinanzierung hat die Staatsanwaltschaft Koblenz im Februar 2012 Anklage wegen Untreue gegen den ehemaligen rheinland-pfälzischen Finanzminister Ingolf Deubel (SPD) erhoben. Auch der frühere Nürburgring-Hauptgeschäftsführer Walter Kafitz und zwei weitere ehemalige Manager der Nürburgring GmbH wurden wegen Untreue angeklagt. Der frühere ISB-Chef und ein RIM-Manager wurden wegen Beihilfe zur Untreue angeklagt. Die Ermittlungen wegen des Verdachts der Untreue gegen Kai Richter dauern an.
Die Nürburgring-Affäre zog einen Untersuchungsausschuss des Landtags und ein Sondergutachten des Landesrechnungshofs nach sich, die EU-Kommission leitete ein Beihilfeverfahren ein. Ex-Finanzminister Ingolf Deubel (SPD) wurde kurz vor Ostern wegen Untreue zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt, Ex-Ring-Geschäftsführer Walter Kafitz (SPD) erhielt eine Bewährungsstrafe, beide haben Revision eingelegt. 2012 trat Beck wenige Wochen nach einem überstandenen Misstrauensantrag wegen der Nürburgring-Pleite aus gesundheitlichen Gründen zurück. Aktuell untersucht der Landesrechnungshof in einem weiteren Sondergutachten die Neufinanzierung des Projekts nach dem Deubel-Rücktritt. Besonders im Fokus stehen zwei weitere SPD-Politiker: Der damalige Wirtschaftsminister und heutige Fraktionschef Hendrik Hering sowie Deubels Nachfolger als Finanzminister, Carsten Kühl. Sie haben das neue Konzept federführend verantwortet.
Bedauern und Besserung geloben reicht nicht mehr
Doch so logisch Dreyers Engagement einerseits ist, so hoch sind auf der anderen Seite auch die Risiken, die sie damit eingeht. „Die Fehler der Vergangenheit können wir leider nicht rückgängig machen“, betonte Dreyer bei ihrem Besuch gestern. Sie saß zwar unter Beck mit am Kabinettstisch, hatte als Sozialministerin allerdings nur wenige Berührungspunkte mit dem Thema. So konnte sie stets darauf verweisen, die Probleme geerbt zu haben, sie bedauern, Besserung geloben. Nun allerdings wird der Nürburgring zunehmend zu ihrer eigenen Schicksalsfrage: Indem sie sich selbst in einer beispiellosen PR-Offensive für Capricorn und dessen Konzept einsetzt, verknüpft sie auch ihr politisches Schicksal damit, dass die Capricorn-Pläne aufgehen. Wenn wieder etwas schief geht, steht Dreyer in der ersten Verantwortungsreihe. Und heikle Punkte gibt es gleich mehrere.
Capricorn, ein mittelständischer Automobil- und Motorsportzulieferer aus Düsseldorf, hat gute Ideen – muss aber erst noch beweisen, dass er sich am Nürburgring nicht verhebt. Der Zulieferer hat einen guten Ruf, baut Spezialteile, die im Auto von Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel zum Einsatz kommen. Trotzdem ist das Unternehmen ein Nischenanbieter – und mit nach eigenen Angaben rund 50 Millionen Euro Gruppenumsatz in den Sparten Automobil und Immobilien vergleichsweise klein. Zum Vergleich: Die führenden Zulieferer setzen ein Vielfaches um, Bosch etwa 2013 rund 46 Milliarden Euro, Conti gut 33 Milliarden Euro. Ganz zu schweigen von Automobilriesen wie Volkswagen (2013: 197 Milliarden Euro) oder Daimler (118 Milliarden Euro). Das sind die Dimensionen, in denen sich die deutschen Autoriesen bewegen.
Ergebnissteigerung nötig
Vergleichbare Finanzmittel, etwa um auf unvorhergesehene Entwicklungen und Belastungen zu reagieren, hat Capricorn nicht. Viel schief gehen darf daher nicht bei den Plänen des Mittelständlers, der im März nach monatelangem Ringen um die Finanzierung dank einer 45-Millionen-Zusage der Deutschen Bank für 77 Millionen Euro den Zuschlag bekam. Capricorn-Chef Robertino Wild gab sich beim Ministerpräsidentinnen-Besuch gestern optimistisch. „Operativ ist der Ring kein Sanierungsfall“, sagte Wild.
Doch Capricorn wird sich strecken müssen. Das geht aus einem vertraulichen Memorandum der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG hervor, die für Insolvenz-Sachwalter Jens Lieser (Koblenz) und Sanierungsgeschäftsführer Thomas Schmidt (Trier) den Verkaufsprozess betreute. Das Memorandum liegt der WirtschaftsWoche vor. KPMG kommt darin zu dem Schluss, dass Capricorn ein Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) in Höhe von 12,8 Millionen Euro erreichen müsse. Machbar ist laut KPMG ein Ebitda von bis zu 13 Millionen Euro. Davon allerdings ist der Ring derzeit noch weit entfernt – für 2013 vermeldeten die Insolvenzverwalter ein Ebitda von drei Millionen Euro, dieses müsste demnach vervierfacht werden.
Das Damoklesschwert in Brüssel
Zudem schwebt nach wie vor das Beihilfeverfahren der EU-Kommission wie ein Damoklesschwert über dem Nürburgring-Deal. Die EU-Kommission muss den Verkauf an Capricorn wegen des laufenden Beihilfeverfahrens erst noch absegnen. Kommt die Kommission zu dem Schluss, dass beim Verkaufsprozess gegen Europarecht verstoßen wurde, drohen Capricorn Rückforderungen in dreistelliger Millionenhöhe, für diesen Fall hat Capricorn ein Rücktrittsrecht vom Kaufvertrag vereinbart. Bei der Kommission sind mittlerweile vier Beschwerden eingegangen, die exakt solche Verstöße kritisieren.
Der ADAC und der gemeinnützige Verein Ja zum Nürburgring e.V. um ADAC-Ehrenpräsident Otto Flimm halten das Verfahren von Grund auf für europarechtswidrig und fordern, dass der Verkaufsprozess komplett neu aufgesetzt wird. Den Zuschlag für Capricorn greifen zwei Mitbieter an, die in der Endauswahl unterlegen waren: Das US-Unternehmen Nexovation sowie der Brite Meyrick Cox, der über ein Konsortium mit US-Finanzinvestor HIG Capital sowie Marcus Graf von Oeynhausen-Sierstorpff (Chef der Strecke „Bilster Berg“ im Teutoburger Wald) für den Nürburgring geboten hatte. Gerade Nexovation macht nun mächtig Druck – und nimmt Dreyer persönlich in die Verantwortung.
Deutliches Schreiben an Dreyer
Am Tag ihres Besuchs am Nürburgring hat Nexovation die Ministerpräsidentin über seine Anwaltskanzlei angeschrieben. Das Unternehmen rügt diverse Rechtsverstöße, die aus Sicht des Bieters beim Verkauf begangenen wurden. Informationen in den Verkaufsunterlagen seien zum Teil falsch gewesen oder erst sehr spät vorgelegt worden, auch der Kaufvertrag habe zum Fristende für die Abgabe der verbindlichen Angebote noch nicht in der finalen Version vorgelegen. Zudem sei das Angebot von Nexovation mit 150 Millionen Euro das höchste gewesen und hätte daher aus europarechtlichen Gründen den Zuschlag bekommen müssen, der Kaufvertrag mit Capricorn sei entsprechend nichtig. Es drohe nicht nur die Übertragung bisheriger Beihilfen auf Capricorn, vielmehr stelle sogar der vereinbarte Deal selbst eine neue Beihilfe dar.
Nexovation macht ernst
Vor allem aber wird Nexovation gegenüber Dreyer überaus deutlich. „Sie, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, sind als oberstes Mitglied der Exekutive des Landes Rheinland-Pfalz verpflichtet, sowohl die Interessen des Landes Rheinland-Pfalz zu wahren, als auch die Durchführung eines rechtmäßigen und unanfechtbaren Bieterverfahrens sicherzustellen“, fordert Nexovation in dem Schreiben, das der WirtschaftsWoche vorliegt und das wir hier in voller Länge veröffentlichen:
An anderer Stelle heißt es: „Wir möchten Sie daher sowohl in Ihrem als auch im Interesse unseres Mandanten bitten, sowohl auf den Sachwalter als auch auf den Sanierungsgeschäftsführer des Nürburgrings einzuwirken, um die ordnungsgemäße Fortführung des Bieterverfahrens zu ermöglichen.“
Die Insolvenzverwalter wie auch Capricorn hatten bereits mitgeteilt, dass sie die Beschwerde von Nexovation nicht kommentieren. „Wir werden uns aus Gründen der Vertraulichkeit nicht zu Details des Bieterverfahrens äußern“, ließen Lieser und Schmidt ihren Sprecher mitteilen. Man sehe „den Dingen gelassen entgegen“, sagte der Sprecher und betonte: „Im Zuge des Investorenprozess ist alles ordnungsgemäß gelaufen.“ Nexovation sieht das anders und lässt keinen Zweifel daran, dass es dem Unternehmen ernst ist. Im Schreiben an Dreyer warnt Nexovation vor einem „langjährigen Rechtsstreit“ um den Nürburgring, der „kommen kann und wird“.
Neben der Beschwerde in bei der EU-Kommission kündigt Nexovation weitere rechtliche Schritte an. Norton Rose Fulbright, die Kanzlei des Unternehmens, weist darauf hin, sie sei „bereits jetzt dazu beauftragt, die Nichtigkeit des Kaufvertrags im Wege einer Klage feststellen zu lassen und den unserem Mandanten entstandenen Schaden geltend zu machen.“ Die Forderung von Nexovation: „In der Konsequenz ist der einzig rechtmäßige und auch im Interesse der Sache richtige Schritt, das Bieterverfahren wieder aufzugreifen und in der Folge unserem Mandanten den Zuschlag zu erteilen.“
Sollte es dazu kommen, wären die schönen Bilder und Worte des gestrigen Besuchs nicht mehr viel Wert. Und Malu Dreyer mittendrin im Nürburgring-Schlamassel.