Ein Blick bei Twitter reicht aus, um ein Gefühl für die aktuelle Lage bei der Deutschen Bahn zu bekommen. „Heute mal wieder ein Versuch, die Alternative Bahn statt Flugzeug zu nehmen“, schreibt @how7119 – „leider unmöglich“. Oder @Reffeff: „Die Deutsche Bahn nervt heute wieder tierisch... Weiche kaputt, Signal kaputt, Bahnschranke defekt.“ Oder @digitalYours: „Mensch Herr @Wissing, ist ihnen eigentlich auch nur im Ansatz klar, wie schlecht es aktuell um die Zuverlässigkeit der Bahn bestellt ist?“
Die Fahrgäste im ICE sind genervt, frustriert, ernüchtert – und nicht nur sie. Auch die Betreiber von Güterbahnen berichten derzeit von eklatanten Missständen im Netz. Bahnhöfe seien „nicht erreichbar“, Züge werden wegen Kapazitätsproblemen „zwangsweise abgestellt“. Ralf Kloß, Produktionsvorstand bei der Güterbahn DB Cargo, bedankte sich in einem internen Video Mitte Mai gar für den unermüdlichen Einsatz seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, weil nur dadurch „ein kompletter GAU“ vermieden werden konnte. Eine Situation wie zurzeit habe er in seinen 40 Jahren Betriebszugehörigkeit „noch nicht erlebt“.
Was ist los bei der Deutschen Bahn? Natürlich könnte man diese Anekdoten als Einzelfälle abtun, als Alltagsgeschichten im Bahnbetrieb, wie sie nun mal vorkommen. Aber wer genauer hinschaut, merkt, dass die angeschlagene Situation bei der Bahn nachhaltiger ist, sprich: von Dauer sein wird. Die Deutsche Bahn wird in diesem Jahr nicht mehr verlässlich pünktlich sein. Auch nicht im kommenden Jahr. Das Schienennetz ist voll. Und diese Wahrheit sollte sie offen aussprechen.
Das Schienennetz ist in die Jahre gekommen. Die gute Nachricht: Die Bahn baut, damit es in Zukunft besser wird. Und zwar an so vielen Stellen wie noch nie. Sie baut neue Strecken, tauscht Weichen, Gleise und Stellwerke aus. Das tut sie derzeit vor allem auf viel befahrenen Strecken, also auf jenen zehn Prozent des Netzes, auf denen 25 Prozent des Schienenverkehrs gefahren wird. Die Baustellen sorgen für noch mehr Umleitungen, Staus und Verspätungen.
Das Problem ist nicht, dass gebaut wird. Das Problem ist vielmehr, dass die Deutsche Bahn ihren Fahrgästen suggeriert, als könnten sie weiterhin eine auf die Minute getaktete Bahn erwarten. Wie „nach Fahrplan“ eben – immer und überall. Nach wie vor hält der Konzern übers Jahr gerechnet an einem Pünktlichkeitsziel von 80 Prozent im Fernverkehr fest, obwohl diese Zahl in diesem Jahr nicht zu halten sein wird.
Zur Wahrheit gehört nämlich auch: Selbst ohne Baustellen liegt die Auslastung auf dem Netz bei einigen sehr stark frequentieren Strecken bereits bei „125 Prozent“, so bestätigt es die Bahn. Mathematisch lässt sich das am ehesten so erklären: Bei 100 Prozent Auslastung hält die Bahn es für wahrscheinlich, einen verlässlichen Fahrplan garantieren zu können. Bei 125 Prozent ist Pünktlichkeit im Prinzip zwar möglich, aber eigentlich ist es auf dem Schienennetz schon längst zu voll. Die Folgen von zusätzlichen Baustellen auf diesen Strecken kann sich jeder Laie selbst ausmalen.
Ein Blick in interne Unterlagen bei der Bahn zeigt, dass die Lage mit den Baustellen an Dramatik zunehmen wird. Planungen für die Sommermonate prognostizieren erhebliche Eingriffe in das Schienennetz der Deutschen Bahn. Die Folge: Sperrstunden für den Zugverkehr, ein „erheblicher Steuerungsbedarf“ sei nötig, heißt es da in einem internen Papier.
Die Deutsche Bahn sollte ihren Kunden diese Wahrheit zumuten. Sie sollte sich ehrlich machen und sagen, dass sie Pünktlichkeit in diesem Jahr auf zahlreichen Strecken nicht garantieren kann, weil Strecken ausgebaut werden, damit es in der Zukunft besser läuft. Das Verständnis der Fahrgäste wäre sicher vorhanden, wenn man sie zu Verbündeten machen würde – im Sinne eines gemeinsamen Aufbruchs für eine bessere Mobilität in der Zukunft. Und diese Strecken sollte die Bahn konkret benennen – und zwar offensiver als ein versteckter Link auf den Bahnseiten. Es wäre an der Zeit, über zusätzliche Puffer im Fahrplan nachzudenken statt Züge auf Minuten genau zu takten.
Die Deutsche Bahn kann auf verständnisvolle Kunden bauen. Viele Reisende lieben das Bahnfahren. Sie identifizieren sich mit einer Zugfahrt, ihrer Bahncard und den Möglichkeiten auf der Schiene. Viele fahren aus Überzeugung, weil sie den Zug für die bequemste, entspannteste und lässigste Art des Reisens halten. Und die Deutsche Bahn hat mit dem ICE ein echtes Identifikationsobjekt geschaffen. Während etwa die französische Staatsbahn SNCF alle paar Jahre ihr Design anpasst, hat die Bahn vor Jahrzehnten ein unverwechselbares und zeitloses Design geschaffen. Diese Tradition setzt die Bahn in ihrem neuen ICE-Innendesign ab 2023 gekonnt fort.
Zur Tradition gehört leider auch die notorische Instabilität im Schienennetz. Vielleicht wäre es sogar mal an der Zeit, zu sagen, dass eine Pünktlichkeitsquote von dauerhaft weit über 80 Prozent überhaupt gar nicht möglich sein wird. Vor einigen Jahren waren es die fehlenden Züge im Fernverkehr, die dafür sorgten, dass Züge unpünktlich waren. Heute sind es zu viele Baustellen, die das System aus dem Ruder laufen lassen. Und morgen wird es andere Gründe geben, die das Netz an die Grenzen zwingt. Zur Erinnerung: Die Deutsche Bahn und die Politik wollen die Fahrgastzahlen bis 2030 verdoppeln und den Schienengüterverkehr massiv ausbauen. Wie soll das möglich sein bei einem Schienennetz, das den bis zu 300 Kilometer schnellen ICE, Regionalzüge mit Tempo 160 und Güterzüge mit 80 auf die gleichen Gleise zwingt?
Hartmut Mehdorn sagte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung 2005: „Es gibt keine perfekte Bahn. Das ist schwer zu vermitteln.“ Es würden immer technische Probleme auftreten: dass eine von 80.000 Weichen mal nicht funktioniere, dass ein Unwetter den Zugverkehr behindere. Und vielleicht ist es genau dieser Sound, an dem die Deutsche Bahn anknüpfen sollte. Mehdorn: „Das System Bahn ist eher auf den selbstständigen Reisenden ausgerichtet.“
Lesen Sie auch: Die Kritik an Bahn-Chef Lutz nimmt zu