
Seinen Kampf gegen die Sekunden führt Matthias Gramer an diesem Januartag an Gleis 6 des Kölner Hauptbahnhofs. Am Bahnsteig steht ein ICE mit Ziel Basel. 45 Sekunden vor der geplanten Abfahrt um 16:55 Uhr startet die Mitarbeiterin der örtlichen Aufsicht den Abfertigungsprozess. Sie drückt den Knopf für die automatische Ansage, die die Fahrgäste zum Einsteigen auffordert. Dann pfeift sie. Die Türen schließen, der Lokführer löst die Bremsen, der ICE setzt sich in Bewegung. Dabei ist er ganze acht Sekunden zu spät. Das ist ganz gut, für Gramer aber nicht gut genug. „Wir wollen unsere Fernverkehrszüge künftig mit dem Zeigersprung auf die Strecke bringen“, sagt er.





Der 38-Jährige ist einer von 72 im Bahner-Deutsch „Knotenkoordinatoren“ getauften Bahnhofsspezialisten der Deutschen Bahn. Seit März 2016 arbeiten diese an den wichtigsten Bahnhöfen Deutschlands daran, Züge künftig pünktlich auf die Strecke zu bringen. Gerade in Köln gibt es viel Luft nach oben. Jeden Tag starten dort 40 bis 45 ICEs und Intercitys in den Fernverkehr, 2015 war nicht mal jeder zweite pünktlich. Gramer leitet eine siebenköpfige Optimierungstruppe, die sämtliche Prozesse überprüft und beispielsweise dafür gesorgt hat, dass die Türen eines Zuges früher als bisher schließen. Im Idealfall gehen sie 15 Sekunden vor der geplanten Abfahrt zu. Fahrgäste können nicht mehr damit rechnen, dass sie noch in letzter Sekunde einsteigen können. Dafür fuhren 2016 fast sieben von zehn Zügen mit weniger als einer Minute Verspätung aus dem Kölner Bahnhof.
Pünktlichkeit ist ein wichtiges Ziel des Ende 2015 gestarteten Reformprojekts Zukunft Bahn. Mit 50 teils radikalen Maßnahmen will Vorstandschef Rüdiger Grube den Konzern wieder auf die Erfolgsspur bringen. Das war bitter nötig. 2015 musste die Bahn den ersten Verlust seit zwölf Jahren vermelden. Mit dem Programm setzt Grube vor allem auf Qualität und Vorsorge. Die Bahn hat jeden ICE auf null Fehler herunterrepariert, Böschungen an der Strecke werden nun stärker zurückgeschnitten, Weichen bekommen Sensoren für die Ferndiagnose. Der Paradigmenwechsel kostet Geld, war aber längst überfällig und soll die Bahn nun verlässlicher und damit attraktiver machen. Er scheint sich tatsächlich auszuzahlen.





So zeigen interne Zahlen der Bahn, dass sich die Abfahrtspünktlichkeit der an den wichtigsten Knoten bereitgestellten Züge deutlich verbessert hat. Im Schnitt machten sich im vergangenen Jahr 75 Prozent der täglich rund 420 irgendwo in Deutschland startenden Fernverkehrszüge planmäßig auf die Reise – acht Prozentpunkte mehr als geplant und deutlich besser als 2015. Andersherum gilt: Immer noch kommt jeder vierte ICE und Intercity verspätet aus der Werkstatt oder dem Betriebshof.
„Wenn wir die Pünktlichkeit des Gesamtsystems verbessern wollen, müssen wir vor allem die Fernverkehrszüge pünktlich auf die Strecke schicken“, sagt Bahn-Manager Gramer. Jede Verzögerung eines ICEs am Start führe sonst zu weiteren Verspätungen auf der Strecke, auch für den Nahverkehr. Schnellere Züge haben Vorrang, sind sie verspätet, kommt es zu Staus. Die Bahn muss vor allem Problemknoten wie Köln lösen, um ihre Kunden zufriedener zu machen.
Gelingt ihr das, könnte Grube spät, aber nicht zu spät doch noch die Kurve bekommen – und als erfolgreicher Bahn-Manager in die Unternehmensgeschichte eingehen. Bisher ist die Bilanz seit seinem Start 2009 geprägt von Versäumnissen. Grube hat die Konkurrenz der Fernbusse unterschätzt, der Regionalverkehr verliert Marktanteile, die Güterbahntochter DB Cargo steckt in einer existenziellen Krise. Den Reformprozess hat Grubes früherer Vorstandskollege Volker Kefer angestoßen, der das Unternehmen im Streit um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 verlassen hat. Grube soll das Konzept nun exekutieren. So will es der Aufsichtsrat, der Grubes Vertrag um zwei bis drei Jahre verlängern wird. Es wirkt wie ein Gnadenakt aus Mangel an Alternativen.