Das Mittelalter spricht – wie sonst fast nur noch der Fußball – nahezu alle Generationen an. „Zunehmend fragen 40- bis 60-Jährige nach mittelalterlicher Kleidung, um zünftig mit ihren Freunden ihre runden Geburtstage auf einer Ritterburg zu feiern“, beobachtet Kyra Blasberg, Inhaberin der Kostümtruhe. Das Geschäft in der Kölner Innenstadt ist auf historische Bekleidung spezialisiert. Die Jüngeren decken sich bei Blasberg für die nächste LARP-Con ein. LARP steht für Live Action Role Playing; Con für Convention.
Mittelalterliche Rollenspiele werden zunehmend populär. Teilnehmer treffen sich meist auf einer Pferdewiese im Niemandsland. Das Orga (Organisationsteam) gibt Handlung und Rollen vor: Händler, Paladine, Ritter, Soldaten. Dann folgt eine Art Improvisationstheater ohne Publikum. Jeder bleibt ein Wochenende lang in seiner Rolle, gekämpft wird mit Schaumstoffwaffen.
Gerade in einer Zeit, die immer technikbegeisterter, vernetzter und komfortabler ist, begeistern sich die Jüngeren für ein scheinbar rückwärtsgewandtes, unbequemes und untechnisches Thema, schreibt die bekennende LARPerin und Piraten-Politikerin Marina Weisband in ihrem Blog: „Ich beantworte in der Woche mehrere Hundert E-Mails, habe einen Termin nach dem anderen, und das meistens, ohne aus meinem Bürostuhl aufzustehen. Am Wochenende habe ich eine Aufgabe: Versorge als Mitglied des Trosses deine Soldaten!“ Um das Essen zuzubereiten, muss Teilzeit-Köchin Weisband Holz sammeln, zerkleinern und rohe Zutaten mit einfachsten Mitteln kesselweise zu Eintopf verarbeiten.
Das Mittelalter ist unglaublich analog“, schwärmt Ex-Börsianer Müller, Vorsitzender des Fördervereins Burg Wersau. Nicht ganz zufällig finden sich unter den Mittelalterfans viele IT-Spezialisten.
Im echten Mittelalter hätten Weisband und Müller wohl weniger gern gelebt: Die Menschen wohnten in Holzhütten mit winzigen Fensterluken, in denen es stockdunkel war und entsetzlich stank. Und auch die Ritter waren „nicht ganz so kühn und edel wie ihre Selbstdarstellungen in der mittelalterlichen Literatur“, sagt die Kulturhistorikerin Bettina Bildhauer von der schottischen Universität St. Andrews.
Zu ihrer Popularität dürfte beitragen, dass die Epoche weniger nach Schule schmeckt als etwa die gut durchgekaute Antike mit Griechen und Römern. Die meisten Menschen haben nur eine vage Vorstellung vom Mittelalter. Umso besser lassen sich Gefühle, Ideen und Vorstellungen darauf projizieren.
Der Erste, der das Marketingpotenzial der Epoche erkannte, war Luitpold Prinz von Bayern, ein Urenkel des letzten Bayernkönigs Ludwig III. Seit 1976 führte der Jurist die König Ludwig Schlossbrauerei Kaltenberg und baute sie zu einer erfolgreichen Spezialitätenbrauerei aus. Der heutige Gesellschafter, kämpfte jahrelang darum, sein Bier auf dem Münchner Oktoberfest ausschenken zu dürfen – vergeblich.
Mit einer anderen Idee hatte der Prinz mehr Erfolg. „Wilde und lustige Ritterspiele“ hatte Seine Königliche Hoheit in den Siebzigerjahren in England gesehen. Das gab es in Deutschland noch nicht. 1980 gründete er das Kaltenberger Ritterturnier, das im vergangenen Jahr rund 100.000 Besucher anzog.