Charles-Edouard Bouée redet schnell, denkt schnell, lebt schnell. Der Franzose pendelt rastlos zwischen den Welten, auf seiner Visitenkarte stehen Mobilnummern aus Deutschland, Frankreich und China, gerade war er in Dubai, erst am Morgen ist er in München gelandet. Irgendwo unterwegs hat er vergessen, seine Armbanduhr umzustellen, um halb eins deutscher Zeit zeigt sie halb neun, aber der Chef von Roland Berger ist gleich ganz da und spricht leidenschaftlich über die Zukunft des Unternehmens, der Branche, der Welt.
Seit Mitte 2014 steht der 46-Jährige mit dem beneidenswert vollen Haar an der Spitze der Beratung. Seitdem sollen dort die Uhren anders gehen. Bouées Lieblingswort lautet „agil“, so soll das von ihm geführte Unternehmen werden. „Wir selbst wenden an, was wir unseren Kunden empfehlen“, sagt er. Es herrsche ein neuer Geist, der sei deutlich digitaler und flexibler. „Die Transformation, die vielen Unternehmen bevorsteht, haben wir schon hinter uns“, sagt Bouée.
Der Wandel geschieht weniger aus einer höheren Einsicht als aus der Not. „Im Kern sind wir eine deutsche Ikone mit bald 50-jähriger Geschichte und die einzige globale Unternehmensberatung europäischen Ursprungs“, sagt Bouée selbstbewusst. Doch das einstige Schmuckstück hat viel Glanz eingebüßt. Bouée muss erklären, wofür Roland Berger eigentlich steht und warum es die Beratung überhaupt noch gibt.
Roland Berger in der Krise
Im Grunde lief es schon seit Anfang des Jahrtausends nicht mehr rund. Ausgerechnet die als Wegweiser geschätzten Berater verzettelten sich bei der Suche nach der richtigen Route. Roland Berger war vor allem als Sanierer angeschlagener Unternehmen bekannt. Doch die Münchner wollten sich zum Strategieberater wandeln und zu den Branchengrößen McKinsey und Boston Consulting aufschließen. Dafür machte Berger auf der ganzen Welt Büros auf und teilweise wenig später wieder zu. Das kostete Millionen, der Durchbruch blieb aus.
2010 und 2013 stand sogar die Unabhängigkeit auf der Kippe. Berger bandelte mit großen Wirtschaftsprüfern an, zweimal waren die Verhandlungen mit Deloitte bis zur Unterschriftsreife fortgeschritten, doch jedes Mal entschieden sich die Partner dann doch gegen den Zusammenschluss.
„Die Fusion wäre wirtschaftlich attraktiv gewesen, aber wir glauben nicht, dass das Modell in der Praxis wirklich funktioniert“, sagt Berger-Deutschlandchef Stefan Schaible, der Bouée zu dem Termin in einem Münchner Traditionsgasthaus begleitet hat. Die Strukturen seien zu unterschiedlich, Marke und Kompetenzen würden verwässert. Allein sei die Beratung besser dran.
Für die Erkenntnis hat Roland Berger einen hohen Preis bezahlt. Die Unruhe hat Spuren hinterlassen, etliche Partner gingen zur Konkurrenz und nahmen ihre Kunden mit. 2014 war ein gutes Jahr für Beratungen, der deutsche Markt wuchs um gut sechs Prozent, aber Roland Berger hatte nichts davon. Der Umsatz brach um 25 Prozent auf geschätzt 560 Millionen Euro ein.
Der Absturz wäre in den Jahrzehnten davor kaum denkbar gewesen. 1967 hatte der damals 30-jährige Roland Berger mit einem Ein-Mann-Unternehmen losgelegt. In den folgenden Jahren florierte das Geschäft, Gründer Berger wurde zu einer der einflussreichsten Spinnen im Netz der Deutschland AG. Überall war er dabei, zu fast allem hatte er etwas zu sagen. Auch nach seinem offiziellen Abschied 2003 ließ er nicht locker, seine Nachfolger hielt er an der kurzen Leine, per Satzung hatte er sich ein Vetorecht bei wichtigen Entscheidungen gesichert.
Bouée räumt bei Roland Berger auf
Der Gründer ist auch heute noch aktiv, er hat ein Büro in München, nutzt Dienstwagen und andere Annehmlichkeiten, aber seit 2010 ist er nur noch Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrats. Seitdem hält er sich im Tagesgeschäft zurück und kümmert sich mehr um die von ihm ins Leben gerufene Stiftung. Im kommenden Jahr wird er 80, dann soll es eine große Feier zu seinen Ehren geben.
Seine Nachfolger profitieren von seinen Kontakten, sind aber um Distanz bemüht. Der Senior gehöre einer anderen Generation an. „Wir ehren ihn, wollen aber nicht in seinem Schatten stehen“, sagt Bouée und zitiert eine chinesische Redensart, die besagt, dass große Bäume nicht unter großen Bäumen heranwachsen können. „Wir pflegen sein unternehmerisches Vermächtnis am besten, wenn wir die Saat für die nächste Generation großer Bäume bereiten.“
Bouée selbst ist unter Berger ziemlich gut gediehen. „Er ist ein guter Verkäufer, er ähnelt Roland Berger sehr, der ihn schätzt und gewähren lässt“, sagt einer, der ihn seit den Anfangstagen kennt. Der Franzose, der auch an der US-Eliteuniversität Harvard studiert hat, kam vor 15 Jahren zur Beratung und profilierte sich vor allem über Auf- und Ausbau des Geschäfts in China, wo Roland Berger heute zu den größten Anbietern zählt.
Als Chef musste Bouée sich statt mit Wachstum und Welterklärung jedoch erst mal mit der Restrukturierung des Unternehmens befassen. Die Beratung hat ein Sparprogramm durchgezogen, Büros geschlossen, teure Standorte aufgegeben und sich von Hunderten Mitarbeitern getrennt. In den besten Zeiten hatte Berger weltweit rund 300 Partner, aktuell sind es 220. Und die werden knappgehalten: Boni sind in den vergangenen Jahren spärlich geflossen, mehr als eine halbe Million Euro Fixgehalt im Jahr bekommen auch die Besten kaum. Das ist ordentlich, aber Topberater bei den großen Konkurrenten kassieren ein Mehrfaches.
Immerhin haben sich die finanziellen Verhältnisse wieder stabilisiert. Der Gründer und einige Partner hatten 2010 mit einer Finanzspritze ausgeholfen, die sie sich mit Zinsen von acht Prozent pro Jahr fürstlich entlohnen ließen. Die Zinslast haben sie reduziert. Mit früheren Partnern, die ihren alten Arbeitgeber wegen ausstehender Ansprüche sogar verklagt hatten, herrscht Frieden.
Welche Rolle(n) Berater heute spielen
In vielen Unternehmen ist das Branchen-Know-how und Erfahrungswissen vorhanden, um neue Lösungen zu finden. Es muss nur aus den Mitarbeitern herausgekitzelt werden. Als Moderator bereitet der Berater die wesentlichen Arbeitsschritte und Methoden hierfür vor, sorgt für eine strukturierte Diskussion, fördert neue Ansichten, gibt kollektivem Denken eine Struktur und entwickelt gemeinsam mit Management und Mitarbeitern neue Strategien, Organisationsmodelle und Prozesse. Ein guter Moderator ist Organisator, Didaktiker, Trainer, Coach und Sparringspartner des Topmanagements zugleich.
Bei der klassischen Form der Beratung kaufen Unternehmen Fach- und Erfahrungswissen ein, das im Unternehmen selbst nicht vorhanden ist. Seit den Anfängen der Strategieberatung á la McKinsey prägt die Expertenrolle das öffentliche Bild der Beraterbranche. Und so bieten noch heute praktisch alle Beratungsunternehmen diese Rolle an, sehr ausgeprägt auch bei Spezialistenboutiquen zu finden, die sich auf ein Fachgebiet (z.B. Einkauf oder Controlling) oder eine Branche (z.B. Finanzdienstleistung) fokussiert haben. Die Beratungsprojekte, in denen Experten gefragt sind, zeichnen sich durch längere Analyse- und Konzeptionsphasen aus. Denn hier kann der Experte mit seinem Fachwissen am meisten bewirken.
Bei besonders kniffligen und komplexen Fragestellungen erwarten die Kunden von Beratern wahre Starqualitäten. Der Vordenker muss entweder überragende intellektuelle Fähigkeiten mitbringen oder über langjährige Industrieerfahrung verfügen. In der Praxis wird zwischen so genannten Brain- und Grey-Hair-Projekten unterschieden. Bei Brain-Projekten ist die zu lösende Aufgabe neu und von großer Komplexität. Der Berater muss vor allem mit Kreativität, Innovation und Pionierleistungen bei neuen Ansätzen, Konzepten und Techniken aufwarten können. Bei Grey-Hair-Projekten sind dagegen kundenindividuelle Lösungen gefragt, die Aufgabenstellung ist jedoch meist im Grundsatz bekannt und Lösungsansätze können durchaus aus anderen Projekten übertragen werden. Die Kunden erwarten von Grey-Hair-Vordenkern nutzbare Erfahrungen und Vorwissen aus früheren Projekten sowie Urteilsvermögen. Bei Brain- wie bei Grey-Hair-Projekten sind Standardlösungen unakzeptabel. Hier zählt vor allem Seniorität und Spezialwissen.
Bei umfangreicheren Beratungsprojekten, die zum Beispiel in mehreren Ländern gleichzeitig stattfinden, übertragen Unternehmen die Projektkoordination und -steuerung gerne Beratungsdienstleistern. Der Projektmanager stellt sicher, dass die einzelnen Maßnahmen und Projektschritte termingerecht umgesetzt werden. Diese Rolle erfordert Organisationstalent und Methoden-Know-how.
"Umbauarbeiten" gehören heute in Unternehmen zum Tagesgeschäft. Beim Gros der Beratungsprojekte handelt es sich um sogenannte "Procedure-Projekte" – das heißt, dem Unternehmen ist das zu bearbeitende Problem gut bekannt, es hat aber selbst nicht genug Leute und häufig auch nicht das Know-how, um diese Umbauarbeiten aus eigener Kraft heraus zu stemmen. Bei IT- oder Transformationsprojekten liefern Berater wie z.B. Accenture, Capgemini, IBM oder BearingPoint Lösungen, die sie anschließend gemeinsam mit dem Kunden auch umsetzen.
Nach dem Hilfe-zur-Selbsthilfe-Prinzip schulen praxiserfahrene Spezialisten die Mitarbeiter des Kunden in Methoden- oder Fachtrainings, damit diese Aufgabenstellungen selber lösen und umsetzen können. Die Idee: Wenn die eigenen Mitarbeiter befähigt werden, Projekte umzusetzen, muss das Unternehmen künftig nicht mehr so viel Geld für Beratung ausgeben. Um anderen etwas beizubringen, braucht es Fachwissen, Empathie und didaktisches Geschick.
Der Berater stellt dem Unternehmen bereits entwickelte und in der Praxis getestete Methoden und Prozesslösungen – wie zum Beispiel Lean Management oder Six Sigma - zur Verfügung.
Diese Rolle beinhaltet hauptsächlich das Design und die Steuerung von Transformations- und Veränderungsprojekten. Der Berater bietet (verhältnismäßig) kleinen fachlich-inhaltlichen Input, er ist mehr Begleiter, Treiber, Controller, Anreger und Coach. Deshalb haben darauf spezialisierte Berater häufig auch keine explizite Branchen- oder fachliche Spezialisierung.
Der Berater verabschiedet sich von seiner Rolle als Berater und übernimmt als Senior Projektmanager selbst weitgehend die Führungs- und Umsetzungsfunktion. Interims-Manager sind bei der Überbrückung von Engpässen oder Umbruchsituationen gefragt. Diese Rolle übernehmen meist nur Berater, die vorher eigene Linienverantwortung in der Industrie gesammelt haben oder Ex-Linienmanager ohne explizite Beratungserfahrung.
Beim Management von Unternehmen werden datenanalytische Fähigkeiten immer wichtiger. Einige Beratungsunternehmen haben dazu eigene Teams im Angebot, die nur darauf spezialisiert sind, Daten zu erheben, zu analysieren und zu interpretieren, etwa um den Vertrieb zu verbessern und Kunden besser kennen lernen zu können.
Kunden fragen auch Beratung nach, um Entscheidungen oder Vorhaben zu legitimieren. Die Bestätigung der eigenen Meinung mittels einer neutralen Sichtweise kann der (fachlichen) Absicherung, der Entscheidungssicherheit, aber auch der Kommunikation dienen. Für die Legitimationsfunktion werden häufig die bekannten Brands herangezogen, aber auch externe Gutachter mit Spezialwissen können diese Rolle übernehmen.
Die Krise hat die Beratung für Optimierung in eigener Sache genutzt. „Wir haben interne Grenzen abgebaut und die Abläufe vereinfacht“, sagt Deutschlandchef Schaible. Vor allem Mitarbeiter im Ausland hatten beklagt, dass sie von der Zentrale vor wichtigen Entscheidungen nicht eingebunden wurden. Das soll nun anders sein.
Um den Neustart ins rechte Licht zu rücken, hat sich die Beratung einen neuen Markenauftritt verpasst. Ein großes, silbriges „B“ prangt nun auf Visitenkarten und Präsentationen, es soll Solidität symbolisieren. Auch den Zusatz „Strategy Consultants“ hat das Unternehmen entfernt. Schlicht Roland Berger heißt die Firma, Bouée will zeigen, dass er mehr drauf hat als ausschließlich Strategieberatung.
Tatsächlich wagt sich Roland Berger in neue Geschäftsfelder vor, ist in die Kommunikationsberatung ebenso eingestiegen wie in die Standortsuche für Unternehmen. Der Erfolg ist durchaus fraglich, die Geschäftsfelder sind mit Spezialisten schließlich schon reichlich besetzt. Manche sehen hinter dem Aktionismus eine gewisse Ziellosigkeit. „Bouée wirft eine Handvoll Spaghetti an die Wand und schaut, welche kleben bleiben“, sagt ein früherer Topmann der Beratung.
Tatsächlich ist der Franzose eine schnell drehende Ideenmaschine, die überall Inspirationen aufsaugen und nutzbar machen will. Sein Buch über „Light Footprint Management“ basiert auch auf Strategien des US-Militärs, als Quelle für Ideen nennt er auch Science-Fiction-Filme, schließlich sei schon im ersten „Krieg der Sterne“-Film von 1977 eine Art iPad zu sehen gewesen.
Gemeinsam geht es besser
Bei so viel Zukunftsbegeisterung ist es kein Wunder, dass der Chefberater voll auf Digitalisierung setzt, bei Kunden und beim eigenen Angebot. Dazu will er Allianzen knüpfen. Das soll modern wirken, hat allerdings auch den Vorteil, dass Roland Berger das Geld spart, das notwendig wäre, um die notwendigen Kompetenzen selbst aufzubauen. Beispielhaft dafür soll die von Bouée ins Leben gerufene Plattform Terra Numerata stehen. Auf der sollen sich Investoren, Technologieanbieter und andere Akteure der digitalen Welt für gemeinsame Innovationsprojekte zusammenschließen. „Dabei lernt man, Kontrolle abzugeben und auch zu akzeptieren, dass ein Projekt nicht genauso funktioniert, wie man es sich vorgestellt hat“, sagt Bouée.
Tatsächlich blieb eine angekündigte Allianz mit der deutschen Start-up-Fabrik Rocket Internet in der Planungsphase stecken. Stattdessen hat Roland Berger sich kürzlich mit dem französischen Inkubator Numa zusammengetan. Mit dem gemeinsamen Angebot können große Unternehmen selbst Start-ups auf den Weg bringen, finanzieren und bei Erfolg ganz übernehmen. Das Projekt soll ganz erfolgreich angelaufen sein. Auch mit dem Kreditkartenanbieter Visa gibt es eine Zusammenarbeit.
Gleichzeitig soll sich die Beratung verstärkt auf ihre Ursprünge konzentrieren, die Sanierung bekommt wieder mehr Gewicht. Dass es bei deutschen Unternehmen derzeit gut läuft, soll die Sparte nicht bremsen. „Es geht längst nicht mehr nur um die reine Kostensenkung, es wird immer wichtiger, die Gesamtleistung eines Unternehmens zu verbessern“, sagt Deutschlandchef Schaible.
Dass Roland Berger im Auftrag der Bundesregierung die Zusammenarbeit zwischen Gerichten und Behörden in der Flüchtlingskrise verbessern soll, gilt als Erfolg, auch wenn Konkurrent McKinsey das größere Projekt gewonnen hat. „Unser Kerngeschäft bleibt die klassische Beratung. Allianzen und die digitale Technik helfen uns, die Expertise besser zu nutzen“, sagt Bouée.
2015 ist die Beratung erstmals seit Beginn der internen Unruhen wieder gewachsen, einige Partner, die sie in der Krise verlassen hatten, sind zurückgekehrt. „In diesem Jahr werden wir weltweit rund 500 neue Mitarbeiter einstellen und fünf bis zehn Prozent zulegen“, sagt Deutschlandchef Schaible. Das wäre in etwa so viel wie der Gesamtmarkt. Roland Berger fällt also nicht noch weiter zurück, gewinnt aber auch kein verlorenes Terrain wieder.
So steht der Beweis noch aus, dass die Beratung auf Dauer allein lebensfähig ist. Harvard-Professor Clayton Christensen hält eine Konsolidierung für unausweichlich. Während kleinere Spezialisten mit Nischenangeboten punkten könnten, profilierten sich die Großen mit globaler Präsenz und Expertise bei Großprojekten. Die Mitte, in der sich auch Roland Berger bewegt, hat es in diesem Modell schwer. Wettbewerb und Kostendruck könnten sie mittelfristig doch dazu zwingen, sich in die Arme eines größeren Partners zu flüchten.
Bouée hält dagegen. „Jeder redet davon, wie wichtig es ist, agil und flexibel zu sein. Tatsächlich scheinen die meisten Unternehmen aber weiter nach Größe zu streben, wollen Godzilla werden.“ Er will beweisen, dass es anders geht. Mit Büros in 36 Ländern sei die Beratung global ausreichend vertreten. „Wir nehmen nicht die befahrenste Straße, sondern haben einen eigenen Weg für uns gesucht. Und gefunden.“ Dann verabschiedet er sich mit kräftigem Händedruck.
Wenige Minuten später steht er draußen auf der Straße, er schaut nach rechts, nach links, geht einen Schritt vor und wieder zurück, zückt sein Smartphone, er weiß nicht so genau, wo er hin soll, aber dabei sieht er nicht ratlos, sondern sehr entschlossen aus.