Santiago de Chile Deutscher Tänzer auf den Spuren seines Lehrers

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Raymond Hilbert und seine Quelle: dpa

Von Anfang an setzten die Linken in Chile auf Kultur. Violeta Parra, Victor Jara oder Inti-Illimani zählten zu den Mitbegründern einer Liederbewegung, die ganz Lateinamerika erfasste. Joan Jara beschreibt, wie ihr Mann in die Dörfer fuhr, um Melodien zu sammeln und traditionelle Instrumente kennenzulernen. Bunster war dabei ein Verbündeter. Als Chef des Nationalballetts machte er den Tanz zur Sache des Volkes.

Das Ende dieser Epoche war brutal und verbrecherisch. Beim Militärputsch verschwanden Tausende Menschen in Folterstätten und Kerkern, manche für immer. Victor Jaras Name steht heute neben mehr als 3000 anderen in einer Gedenkstätte auf dem Zentralfriedhof von Santiago. Viele Chilenen konnten glücklicherweise flüchten - nicht selten auf abenteuerlichen Wegen. Im Exil lebte die Kultur genauso weiter wie unter den Repressionen daheim. Anders wäre kaum erklärbar, warum Männer wie Victor Jara all die Jahre über Volkshelden blieben.

Bunster arbeitete nach seiner Flucht in die DDR zunächst in Rostock, dann an der Palucca Schule. Hilbert erinnert sich, dass der Südamerikaner für frischen Wind im eingeschliffenen Schulalltag sorgte. „Er benutzte eine uns bis dahin unbekannte Musik, und seine Art und Weise zu reden war anfangs sehr exotisch. So gab er uns Namen von amerikanischen Ureinwohnern, was uns sehr motivierte. Er hat uns nicht pure Technik gelehrt, sondern sie über den Tanz erklärt.“ Hilbert reißt die Arme in die Höhe und ahmt seinen Lehrer nach. “Stell Dir vor, da kommt ein Krokodil auf dich zu“ oder „Stell Dir vor, du bist von Bewaffneten umgeben“ - so hat er seine Aufgaben formuliert, als wir Kinder waren. Wir mussten das dann tänzerisch ausdrücken.“

Bunster habe den Tanz auch über Poesie, Chemie oder andere Fächer vermittelt: „Einmal fragte er uns, warum Straßen in einer Stadt gerade und Wege im Park verschlungen sind. Antwort: Weil man dort nicht zum Ziel kommen muss, auf der Straße dagegen schon.“ Hilbert hat viele Begebenheiten im Gedächtnis behalten. Damals, als er mit seinem Freund - dem heutigen Ballettdirektor Stephan Thoss - des öfteren in Bunsters Dresdner Wohnung kam. „Wenn wir Fragen nach dem Sinn des Lebens hatten, gab er uns Bücher. Er gab sein Wissen gern weiter und hat uns immer so behandelt, als ob er einer von uns wäre. Der Tanz muss den Menschen ansprechen, lautete sein Credo. Bunster war ein gütiger, großzügiger und weiser Mann.“

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