Santiago de Chile Deutscher Tänzer auf den Spuren seines Lehrers

Der Tänzer Raymond Hilbert unterrichtet in Chile 200 Studenten. Er arbeitet als Professor für modernen Tanz - und sieht sich als deutscher Teil des berühmten lateinamerikanischen Choreographen Patricio Bunster.

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Der deutsche Tänzer und Quelle: dpa

Im Brasil-Viertel von Santiago de Chile wirkt die Welt auf seltsame Art entrückt. Schon lange hat die Gegend ihre beste Zeit hinter sich. Viele der bunten Fassaden an der Plaza Brasil sind verblasst und bröckeln vor sich hin, nur an wenigen Stellen kündet frische Farbe von einer Renaissance. Gerade sonntags scheint das Leben hier noch einen Tick geruhsamer als im Rest der beschaulichen Großstadt. „Das Brasil ist ein guter Ort zum Wohlfühlen und Arbeiten, ich lebe gern hier“, sagt der Pädagoge und Tänzer Raymond Hilbert. Am Abend zuvor hat der 41-jährige Deutsche hier wieder einmal auf der Bühne gestanden, im Centro Cultural Matucana 100 - einer der besten Kunstadressen der chilenischen Hauptstadt.

Mit der Compania de Danza Espiral widmete Hilbert seinem Lehrer Patricio Bunster (1924-2006) ein abendfüllendes Programm: Meilensteine im Schaffen des Choreographen, eines der führenden Tanzmeisters Lateinamerikas. Einen Monat lang war der charismatische Künstler erneut im Alltag Santiagos präsent - überall in der U-Bahn klebten Plakate mit seinem Konterfei. Jetzt sitzt Hilbert im Park der Plaza Brasil. Gegenüber in der Tanzschule wärmen sich Eleven zur Filmmusik von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ auf. Draußen greifen vier Cellisten in die Saiten, die Kommune richtet hier im Sommer kostenlose Konzerte aus. Zwei Dutzend Zuhörer und streunende Hunde bilden das Publikum. Ein Mann im Anzug sitzt neben einem Jungen mit Rugbyball. Nebenan spielen Kinder in riesigen bunten Skulpturen. Mittendrin Hilberts Tochter Millantu - ein Name der Mapuche-Indianer: Millantu heißt Sonnengold.

Wenn Raymond Hilbert von Patricio Bunster spricht, wird der Meister wieder lebendig. Oft muss Hilbert beim Erzählen lachen, einmal kämpft er auch mit den Tränen. Denn Bunster war für ihn mehr als ein Lehrer, er war auch eine Vaterfigur. Beide hatten sich in den 70er Jahren in Dresden kennengelernt. Der gebürtige Leipziger Hilbert kam als Schüler der Palucca Schule ins Internat, Bunster hatte seinem Heimatland Chile nach dem blutigen Militärputsch 1973 den Rücken gekehrt und an der Elbe eine zweite Heimat gefunden.

Dabei verkörpert Bunster nicht nur ein chilenisches Schicksal, seine Karriere berührt auch deutsche Geschichte. Tanz hatte er neben Architektur noch vor dem Zweiten Weltkrieg in Santiago studiert, dann bei Sigurd Leeder in London. Später wurde er Solist im Ballett von Kurt Jooss (Folkwang-Schule), der genau wie Leeder vor den Nazis aus Deutschland geflohen war. Jooss' legendäres Stück „Der grüne Tisch“ über die Schrecken des Krieges sollte Bunsters Leben prägen. Ebenso ging es der späteren Ehefrau Bunsters, Joan Alison Turner Roberts. Die britische Tänzerin beschreibt ihre erste Begegnung mit Bunster 1951 plastisch. „Nach drei Wochen Sonnenbad auf dem Schiffsdeck hatte seine Haut einen dunklen Kupferton angenommen, er war schwarzhaarig, und sein Gesicht mit den großen braunen Augen, den breiten Wangenknochen und der Hakennase erinnerte an ein indianisches Tongefäß aus Peru“, schreibt Joan in ihrem Buch „Das letzte Lied“ zu Ehren ihres zweiten Ehemanns Victor Jara.

Der beliebte Sänger und Regisseur war 1973 eines der ersten Opfer der Putschgeneräle. So wie Jara war auch Bunster Kommunist. „Allerdings hatte er ein anderes Verständnis vom Sozialismus, wie er in der DDR praktiziert wurde“, glaubt Hilbert. Vielleicht lasse sich die Zeit der Unidad Popular - der Einheitsregierung unter Präsident Salvador Allende von 1970 bis 1973 - am ehesten mit einer Aufbruchstimmung vergleichen. „So ähnlich war wohl für viele das Lebensgefühl. Es war das Gefühl, füreinander da zu sein, etwas für das Allgemeinwohl zu tun.“

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