Sechs Tourismustrends für 2020 Die Deutschen reisen teurer und aufwändiger

Erlebnisse und Entdeckungen mit Einheimischen, wie hier bei einer Wanderung in Marokko, zählen zu den wachstumsstärksten Trends in der Tourismusbranche. Quelle: Airbnb

Undertourism, Vorfahren suchen, Flüge buchen per Sprachassistent, Hotels mit Schlafrobotern und natürlich: „authentische Erlebnisse“ vor Ort – sechs wegweisende Trends der Tourismus- und Reiseindustrie.

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Eigentlich müsste die Reisebranche dieser Tage mit gesenktem Kopf gehen. Nachdem Reiseverzicht aus Flugscham lange Zeit die öffentliche Debatte prägte, streichen nun Fluggesellschaften aus Angst vor den Folgen des Coronavirus reihenweise Verbindungen. Doch derzeit deutet nichts auf ein Ende des Reisebooms hin. Im Gegenteil: „Wir bekommen wahrscheinlich ein neues Rekordjahr“, erwartet ein führender deutscher Reisemanager, der angesichts der unübersichtlichen Lage allerdings lieber anonym bleiben will.

Nach einer Reihe von hohen Umsatzzuwächsen legte die Branche in Deutschland im vorigen Jahr bereits um gut ein Prozent zu, obwohl wegen der Pleite des Großveranstalters Thomas Cook viele Urlauber nicht wie geplant reisen konnten. In diesem Jahr könnte es sogar ein Plus von zwei Prozent geben. „Die Leute reisen nicht unbedingt mehr, aber im Schnitt zu höheren Preisen“, sagt der Reisemanager. In Zahlen bedeutet das: Im vergangenen Jahr unternahmen 61 Prozent der Deutschen eine Reise, die wenigstens fünf Tage dauerte. Ein Prozentpunkt weniger als im Rekordjahr 2018. Das ist das Ergebnis der 36. deutschen Tourismusanalyse, vorgestellt von der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen. Finanziert wird die 2007 in Hamburg gegründete Stiftung von der Londoner Tabakfirma British-American Tobacco. Mit diesem Wert von 61 Prozent verbleibe die Reiseintensität der Deutschen „auf einem hohen Niveau“, schreiben die Studienautoren.

Am liebsten verreisen die Bundesbürger nach wie vor innerhalb Deutschlands: 34 Prozent verbrachten ihren Urlaub in der Heimat. Doch gleichzeitig buchten die Deutschen noch nie mehr Fernreisen als im vergangenen Jahr (17 Prozent). Und die Prognose des Instituts ist eindeutig: Die Reisen werden teurer und aufwändiger. Dafür sorgt vor allem das immer breitere Angebot der Branche. Zwar ist die beliebteste Urlaubsart immer noch der Familienurlaub rund ums Mittelmeer – mit voller Verpflegung bis zu All inclusive und über das Reisebüro gebucht. Hierfür entscheidet sich immer noch fast die Hälfte aller Kunden. Fast jeder zehnte Urlauber bucht zudem eine Kreuzfahrt. Und was die Branche besonders freut: Die 2,5 Millionen Deutschen gaben für die Reise auf dem Schiff mit im Schnitt gut 200 Euro pro Tag deutlich mehr aus als Hotelurlauber.



Doch unterm Strich prägen längst immer individuellere Angebote die Branche. „Individualität statt Mainstream lautet das Motto vieler Urlauber“, sagt Ulrich Reinhardt, wissenschaftlicher Leiter der BAT-Stiftung: „Immer reiseerfahrener wollen sie wieder mehr Authentizität, Atmosphäre und individuelle Angebote vorfinden, als austauschbare Bettenburgen an überfüllten Stränden.“

Die WirtschaftsWoche stellt sechs wegweisende Trends der Reisebranche vor: drei wachstumstreibende Inhalte und drei Technologien, die zumindest in der Tourismusbranche vor dem Durchbruch stehen.

1. Nachhaltigkeit – Reisen als Zukunftssicherung 

Umweltbewusst reisen ist eigentlich ein alter Hut. Spätestens seit sich 1998 gut 100 Veranstalter im Forum Anders Reisen gemeinsam vermarkten, ist das Angebot leicht zu finden. Doch über die Jahre wurden aus kaum massentauglichen Ferien mit Kameltreckking oder Rucksacktouren in Mittelschweden Mainstreamangebote. Dafür sorgt nicht zuletzt, dass sich die großen Veranstalter wie Tui vermehrt um das Thema kümmern und zeigen, dass nicht nur bei Urlaubs-Verzicht oder Bahn-Wandern genannte Touren der ökologische Fußabdruck geringer ausfällt als beim normalen Fernurlaub. Auch größere Hotelanlagen können nachhaltig wirtschaften und die Menschen vor Ort besser unterstützen als Entwicklungshilfe, betont etwa Tui-Chef Fritz Joussen. „Die Dominikanische Republik ist ein beliebtes Reiseziel und steht deshalb bei Kindersterblichkeit, Ausbildung und anderen Messgrößen für Lebensqualität viel besser da als das benachbarte Haiti.“

2. Erlebnisse – die sogenannten „Experiences“

Fast ebenso wichtig ist Joussen das Thema Erleben. Hier setzt er zum einen auf ein breiteres Angebot innerhalb der Hotels bis hin zu ungewöhnlichen Wellness-Angeboten wie den Brainkinetik-Kursen für eine bessere Gehirnleistung, wie sie die Blue-Hotels der Tui anbieten. Das größte und vor allem profitabelste Wachstum versprechen Ausflüge und andere Unternehmungen am Urlaubsort. „Im Reisegeschäft machen wir bei rund 900 Euro Umsatz pro Kunde im Schnitt 18 Euro Ertrag“, rechnet Joussen vor. „Die erreichen wir bei einer Aktivität schon bei einem Umsatz von 40 Euro.“

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Kein Wunder, dass sich nun fast alle Reiseunternehmen vom Berliner Start-up Getyourguide bis zur weltgrößten Bettenbörse Booking.com dem Thema widmen. So hat etwa der US-Haus- und Wohnungsvermieter Airbnb (Umsatz: rund 2,35 Milliarden Euro) vergangene Woche eine neue Führungskraft für den erst 2016 geschaffenen Geschäftsbereich Experiences eingestellt: die langjährige Walt-Disney-World-Managerin Catherine Powell. Ihre Ernennung erfolgt, schreibt Airbnb, „weil die Verbraucher, insbesondere die Millennials und die Generation Z, sich zunehmend dafür entscheiden, ihre Zeit und ihr Geld eher für lokale, authentische Dinge zu verwenden als für Konsumgüter“. Laut dem Londoner Marktforscher Euromonitor dürften die weltweiten Ausgaben für den „Megatrend Experience“ von 5,8 Billionen US-Dollar im Jahr 2016 auf 8 Billionen Dollar im Jahr 2030 anwachsen.

Airbnb bietet etwa Pferdeflüstern mit Pferdetherapeuten in Barcelona an, oder „selbst gemachte Pasta mit einer italienischen Oma“, sowie „Musikgeschichte und Kultur mit einem DJ“ in Havanna. In zehn der bei Airbnb beliebtesten Städten, teilte das Unternehmen mit, sei die Anzahl der gebuchten Erlebnisse von 3800 im Januar 2019 auf über 7500 im Januar 2020 angewachsen. Und in einer Umfrage, die Airbnb in Auftrag gegeben hat, gaben mehr als die Hälfte der Befragten in unter anderem Mexiko, Frankreich, Deutschland, England, Australien und den USA an, dass sie lieber Geld für Erlebnisse und nicht für physische Güter ausgeben würden.

3. Reisen gegen den Trend

„Touristen sind immer nur die anderen“ – unter diesem Motto suchen immer mehr Urlauber Erholung abseits des Üblichen. Die finden sie zum einen im Undertourism – als Gegenbewegung zum Overtourism genannten Ansturm auf ohnehin schon überlastete Traumziele wie Barcelona, Amsterdam oder – bis vor Kurzem – Pekings Verbotene Stadt. Dazu zählen zum einen kaum bekannte Orte wie Colmar im Elsass mit seinen Venedig-verdächtigen Kanälen und auch Bergamo in Norditalien. Aber auch gänzlich unentdeckte Orte wie Odessa in der Ukraine oder auch Landschaften wie der Norden Albaniens mit seinen unberührten Tälern und Seen.

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Ein weiterer Weg zu individuelleren und damit vom Kunden höher bezahlten Angeboten sind Inhalte, die auf den zweiten Blick nicht viel mehr sind als klassische Angebote mit einem neuen Namen. Hierzu zählen Trends um halb-englische Reizworte wie Skip-Gen-Travel (Großeltern reisen mit den Enkeln) oder DNA/Ancestry-Travel (Suche nach den eigenen Vorfahren). So nutzen in den USA laut einem Bericht des Massachusetts Institute of Technology viele US-Amerikaner die inzwischen günstig zu kaufenden privaten Erbgut-Tests dazu, ihre Herkunft zu bestimmen – und dann eine Reise in die Region ihrer Vorfahren zu buchen, in der Hoffnung, die eigenen Wurzeln besser zu verstehen.

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