Immer wieder wird deutlich, dass einige der Teilnehmer nicht in erster Linie wissen wollen, welche Grenzen ihnen das Recht setzt – sondern wie man sie überschreiten kann, ohne dabei erwischt zu werden.
Das prägt auch den Dialog zum Thema Waffenbesitzkarte, das am dritten Tag auf dem Plan steht. Dozent Boll erläutert die Ausnahmen: „Für eine Schreckschusspistole braucht ihr keine Waffenkarte.“ Es folgt ein kurzer Dialog, an dem sich der halbe Kurs beteiligt: „Aber man kann doch auch mit einer Schreckschusspistole jemanden töten.“ Boll: „Na ja, vielleicht wenn du damit zuschlägst“. „Nein, auch wenn man sie aufs Trommelfell aufsetzt“. „Na, da kannst du auch gleich damit zuschlagen!“ „Oder wenn man sie aufbohrt, das geht auch.“
Ist das noch die theoretische Analyse, ein Lehrbuchfall? Oder werden hier eigene Erfahrungen wiedergegeben? Während des gesamten Kurses werfen die Antworten der Teilnehmer diese Fragen immer wieder auf – und bleiben im Raum stehen.
Tag 4, Unfallverhütung: Heiko, ein zappeliger Typ mit blutunterlaufenen Augen, schildert einen Vorfall. Er sei mal mit der Hand in eine Maschine geraten, weil die nicht richtig gesichert war, kurz danach auch noch sein Kollege, ein verworrener Vortrag. Aber die Quintessenz ist klar: „Ich klage bis heute, dass ich Geld bekomme, die stellen sich da total quer.“ Auch wenn es nicht wirklich zum Thema passt, fragt Boll nach: „Wer war denn da dein Arbeitgeber?“ Heiko: „Das war Vater Staat.“ „Wie meinst du das?“ „Na, die JVA halt.“
Das deutsche Strafrecht setzt auf Resozialisation, deshalb ist es angemessen, dass eine Vorstrafe keinen dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausschließt. Aber erstaunlich ist es doch, wie wenig Arbeitgeber und erst recht die Auftraggeber von Sicherheitsmitarbeitern über deren kriminelle Karrieren erfahren. Zwar können Arbeitgeber bei Neueinstellungen ein Führungszeugnis fordern, da steht aber deutlich weniger drin, als landläufig angenommen wird. Erststrafen von bis zu drei Monaten oder Geldstrafen unter 90 Tagessätzen werden gar nicht aufgenommen, Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr nach drei Jahren gelöscht. Mit Ausnahme bestimmter Sexualdelikte verschwinden auch alle höheren Strafen nach fünf Jahren aus dem polizeilichen Führungszeugnis.
Das Geschäft der Handelskammern
Kein Wunder also, dass der seriöse Teil des Gewerbes seit einiger Zeit Reformen fordert. „Jeder zukünftige Unternehmer sollte mindestens eine Ausbildung zur Fachkraft für Schutz und Sicherheit haben“, formuliert Gregor Lehnert vom Bundesverband der Sicherheitswirtschaft (BDSW). Vor allem aber erkennt er einen Strukturfehler in der Beaufsichtigung. „Mit Ausnahme von Österreich sind in allen 25 anderen EU-Länder die Innenministerien für das Sicherheitsgewerbe zuständig“, sagt Lehnert. Angesichts des Aufgabenfeldes der Unternehmen klingt das ziemlich einleuchtend – in Deutschland liegt die Verantwortung aber beim Wirtschaftsministerium. Das ist auch im Sinne der Industrie- und Handelskammern, die bundesweit für die Unterrichtungen zuständig sind. Und das ist derzeit ziemlich lukrativ. Pro Kurs bleibt bei den Kammern ein fünfstelliger Betrag hängen, in den meisten Städten sind die Kurse für den Rest des Jahres bereits ausgebucht.
Kriminalstatistik
Insgesamt registrierte die Polizei 2014 rund 6,082 Millionen Straftaten, das sind zwei Prozent mehr als 2013. Die Polizei konnte 54,9 Prozent der Fälle aufklären, eine etwas bessere Quote als im Vorjahr. Über ein Viertel der Tatverdächtigen sind „alte Bekannte“, die auch wegen anderer Delikte schon im Visier waren.
Fast jeder fünfte Tatverdächtige ist nicht-deutscher Herkunft. „Das will ich nicht verschweigen“, sagte de Maizière. Allerdings hinke hier das Zahlenwerk, weil auch Touristen Straftaten begehen oder Asylbewerber auffällig werden. „Trotzdem: Die Ausländerkriminalität ist alles in allem betrachtet höher als im Durchschnitt der Bevölkerung.“
Die schwere Gewaltkriminalität mit Körperverletzungen und Raub geht seit 2009 stetig zurück. Auch die Jugendkriminalität sank im Vorjahr um 9,3 Prozent: „Man kann nicht sagen, dass die Jugendlichen immer gewalttätiger werden“, so de Maizière. Allerdings würden junge Menschen Gewalt immer intensiver ausleben.
Die Zahl der Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern, die die Behörden mitbekommen, verringerte sich um 2,4 Prozent. Auch Autodiebstähle und Sachbeschädigungen werden seltener beobachtet. 2014 gab es aber mehr Diebstähle (+2,4 Prozent), Rauschgiftdelikte (+9,2) und Taschendiebstähle (+2,5).
Die Zahl der Wohnungseinbrüche ist um 1,8 Prozent auf 152 123 gestiegen, so viel wie seit rund 15 Jahren nicht mehr. De Maizière warnte, herumreisende Einbrecherbanden seien nur schwer in den Griff zu bekommen. Bund und Länder würden an neuen Ermittlungskonzepten arbeiten.
Besorgniserregend sei, dass fremdenfeindliche, antisemitische oder rassistisch motivierte Hasskriminalität im Sog von Flüchtlings- und Asyldebatte einen Höchststand erreicht habe. Kirchen, Synagogen und Moscheen werden gezielt angegriffen, auch Unterkünfte von Asylbewerbern und Flüchtlingen: „Das muss gestoppt werden“, sagte de Maizière.
Nicht hinnehmen wollen Bund und Länder, dass täglich mehr als zehn Polizisten massiv angegriffen werden. „Das ist erschütternd und zeugt von großer Brutalität und Menschenverachtung dieser Täter“, so der Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Oliver Malchow.
Zumindest für die Teilnehmer in Bolls Kurs lohnt sich das Ganze ja auch. Denn Boll macht sein Versprechen wahr, ab Donnerstagmittag konzentriert er sich ganz auf die Prüfungsvorbereitung. Das letzte und laut Prüfungsordung größte Themengebiet „Umgang mit Menschen“, wird in einem Folienfilm abgehandelt. Boll: „Das geht auch ohne Fachwissen.“ Stattdessen nimmt er sich Zeit, die Fragen einzeln mit den Teilnehmern durchzugehen. Alle 20 Testfragen und Antworten, die am nächsten Tag drankommen, liest er tatsächlich Wort für Wort vor. Manche Antworten schreibt er gar an die Tafel an, weil die Teilnehmer sie nicht verstehen. Özkan, einem elegant gekleideten jungen Mann, ist auch das nicht genug. Mit seinem Handy zeichnet er Bolls Ausführungen auf. Als der es merkt, einigen sie sich darauf, die Aufzeichnung sofort zu löschen – nach der Prüfung. Und so kommt es, wie es kommen musste: Alle Teilnehmer bestehen den Test. Und die Bundesrepublik ist wieder um 21 Fachkräfte reicher.