Siemens-Rückzug aus Russland „Dann fahren die Züge halt durch die Ukraine statt durch Russland“

Kein Siemens-Zug mehr nach Russland: Der Sapsan zwischen Moskau und Sankt Petersburg. Quelle: dpa Picture-Alliance

Der Rückzug von Siemens aus Russland trifft auch das Zuggeschäft von Siemens Mobility. Russland hatte 13 Hochgeschwindigkeitszüge bestellt. Neun werden jetzt nicht mehr ausgeliefert. Was aus denen wird – und was das für das Werk in Krefeld bedeutet.

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Der „Sapsan“, zu Deutsch: Wanderfalke, ist das exponierte Gesicht der Hochgeschwindigkeit auf der Schiene in Russland. Der Zug aus dem Hause Siemens ist für Temperaturen von bis zu minus 50 Grad Celsius ausgelegt. Und die Betriebseigenschaften der Züge auf der Pendelstrecke zwischen Moskau und Sankt Petersburg sind durchaus beeindruckend. Die knapp 650 Kilometer Strecke verbindet der Sapsan in drei Stunden und 45 Minuten. Und die Verfügbarkeit liegt bei rekordverdächtigen 99 Prozent.

Hightech auf der Schiene – produziert in Krefeld. Damit hat Siemens in der Vergangenheit die Weltmärkte erobert. Auch den russischen. Doch damit ist nun Schluss. Der Industriekonzern hat angekündigt, sich aus dem russischen Markt zurückzuziehen. Nahezu komplett. Das trifft auch die Tochtergesellschaft Siemens Mobility und mit ihr das Werk am Rhein. Das Unternehmen setzt nun auf neue Märkte, die nicht minder anfällig sind als der russische – und Wasserstoffzüge ohne CO2.

In Krefeld, so der Plan, sollten in den kommenden Monaten eigentlich weitere Züge unter dem Markennamen Velaro RUS gebaut werden. Hintergrund ein Auftrag der russischen Staatsbahn RZD zum Bau von 13 Velaro-RUS-Zügen, die in Design und Ausstattung dem ICE3 der Deutschen Bahn ähneln. Vier Züge wurden bereits gebaut und ausgeliefert. Die neun ausstehenden Züge würden nun „gefertigt und eingelagert“, heißt es bei Siemens Mobility. Das Auftragsvolumen lag bei dieser Order bei rund 1,1 Milliarden Euro – inklusive der Instandhaltung der Züge für 30 Jahre.

Der Rückzug der gesamten Siemens-Gruppe mit Ausnahme der Gesundheitssparte Healthineers aus Russland ist schmerzhaft für die Mobilitätstochter. Für Siemens Mobility galt Russland als wichtiger Markt mit enormen Potenzial. Die Bestellung der 13 Züge war nach 2006 und 2011 der dritte Großauftrag von RZD. Hinzu kommt: Russland war einer der wenigen Märkte überhaupt, auf denen Siemens mit seinen Hochgeschwindigkeitszügen reüssieren konnte. Den Hauptumsatz mit Fernverkehrszügen macht Siemens Mobility nach wie vor als Hausproduzent der Deutschen Bahn in Deutschland. Die Auftragsbücher sind voll. Bis 2030 arbeitet Siemens Mobility eine Order von bis zu 137 ICE4-Züge ab. Möglicherweise werden sogar weitere Triebzüge aus dem Rahmenvertrag von bis zu 300 ICE4 abgerufen. Im Februar dieses Jahres hat die Bahn außerdem 43 ICE-Züge der dritten Generation (ICE3 Neo) bestellt.

Im Ausland kämpft Siemens Mobility allerdings gegen starke Wettbewerber. Alstom aus Frankreich etwa oder CRRC aus China. Siemens Mobility liefert zum Beispiel Velaro-Züge nach Spanien. Der Velaro E pendelt seit Jahren zwischen den Metropolen Madrid und Barcelona. Die 625 Kilometer lange Strecke schafft der Zug in weniger als zweieinhalb Stunden – mit Spitzengeschwindigkeiten von 350 Kilometer pro Stunde. In die Türkei liefert Siemens Mobility seit 2017 Velaro-Züge. Inzwischen fahren etwa zwischen Ankara und Konya 19 Fahrzeuge. Auch Eurostar, der Zugbetreiber zwischen London und dem europäischen Festland, hat 2010 Siemens-Züge bestellt – ein Prestigeerfolg der Münchener gegenüber Konkurrent Alstom. Außerdem profitiert das Unternehmen als Ausrüster von Komponenten für den Bau der chinesischen Züge von CRRC.

Bis zum Ukraine-Krieg war auch Russland ein Markt mit hohen Wachstumsaussichten. Man werde nun die „industriellen Geschäftsaktivitäten in Russland in einem geordneten Prozess“ beenden, sagte Vorstandschef Roland Busch. Das gelte sowohl für Neuaufträge als auch für das Wartungsgeschäft. Für Siemens ist das eine Zeitenwende. Man sei in dem Markt „seit rund 170 Jahren tätig“ gewesen, sagte Busch. Es begann 1851 mit der Lieferung von 75 Zeigertelegrafen für die Nachrichtenverbindung zwischen Sankt Petersburg und Moskau.

Und was passiert nun mit den neun Zügen, die noch nicht gebaut und ausgeliefert wurden? Siemens Mobility hofft, dass die Züge „gegebenenfalls für eine andere Verwendung, außerhalb Russlands, verwendet“ werden könnten, sagt ein Sprecher des Unternehmens. Sie sollen daher zunächst gefertigt und eingelagert werden.

Experten halten Absatzchancen für den Velaro RUS außerhalb Russlands für realistisch. „Die Eisenbahnsysteme der ehemaligen Sowjetrepubliken sind weitestgehend auf gleiche Standards abgestimmt. Das ist ein relativ homogener Markt“, sagt Maria Leenen, Geschäftsführerin der Verkehrsberatung SCI Verkehr. Die Zughersteller orientierten sich nach der Gost-Norm, einem Zertifizierungsstandard aus der Zeit der früheren Sowjetunion. „Auch in osteuropäischen Ländern wie dem Baltikum könnten die Siemens-Züge theoretisch mit einigen Anpassungen zum Einsatz kommen.“
Durchaus möglich wäre sogar, dass Moskau die Züge an seinen militärischen Feind verlöre. „Eine sehr realistische Option wäre der Einsatz der Züge in der Ukraine nach einem möglichen Ende des Krieges“, sagt Leenen. Die Züge könnten „Teil eines Aufbauplans sein, über den die Politik schon heute debattiert“, so Leenen. „Dann fahren die Siemens-Züge halt durch die Ukraine statt durch Russland.“ Eine weitere Option sei der Verkauf der Züge nach Kasachstan. „Der Staat hat das nötige Geld und die entsprechenden Distanzen für einen Hochgeschwindigkeitsverkehr.“



Das Gute für Siemens: Das Unternehmen hat die Rückzugsentscheidung ohnehin aus einer Position der Stärke heraus getroffen. Das Werk in Krefeld ist bestens ausgelastet. Es heißt, man könne nun gegebenenfalls sogar ein paar andere Aufträge vorziehen und abarbeiten. Ohnehin baut Siemens Mobility nicht nur Hochgeschwindigkeitszüge. Das Geschäft mit Regio-Zügen, Stadtbahnen, Güter-Lokomotiven und der Bahninfrastruktur ist viel größer. 2021 setzte Siemens Mobility 9,2 Milliarden Euro um – und kam im gleichen Jahr auf einen Auftragseingang von 12,7 Milliarden Euro, der in den kommenden Jahren abgearbeitet wird. Die Bestellungen stiegen um fast 40 Prozent gegenüber Vorjahr. Es läuft also.

Wachsen will das Unternehmen vor allem in Europa und den USA. Dort gewann Siemens Mobility im vergangenen Jahr einen Auftrag über 2,8 Milliarden Euro für Triebzüge und den damit verbundenen Service – „der bislang größte Auftrag für Mobility aus der Region Amerika“, heißt es im Geschäftsbericht. In den USA erwartet das Management in den kommenden Jahren große Investitionsprogramme in die Infrastruktur und den Nah- und Fernverkehr.

Gleichzeitig setzt Siemens Mobility auf Märkte, die ebenso aufstrebend wie fragil sein dürften. In Ägypten und Saudi-Arabien etwa stünden Ausschreibungen „großer schlüsselfertiger Systeme“ an, heißt es im Geschäftsbericht. In Indien könne das Unternehmen von der „Privatisierung“ und der „Modernisierung der Infrastruktur“ profitieren. Und auch in China erwarte man „anhaltende Investitionen“.

Große Hoffnung setzt das Unternehmen auch in Wasserstoff-Züge für Deutschland und andere europäische Märkte. Auf etwa zehn Prozent der Strecken in Deutschland fahren vor allem Diesel-betriebene Züge, weil die Gleise dort nicht elektrifiziert sind. In Krefeld präsentierte CEO Michael Peter vor wenigen Tagen den Nahverkehrszug Miro Plus H – zusammen mit Projektpartner Deutsche Bahn. Der Zug soll komplett CO2-frei unterwegs sein – vor allem dank grünen Wasserstoffs, der aus der Produktion von Strom mit Hilfe von Erneuerbaren Energien entstehen soll. Die Bahn sei „das klimafreundliche Verkehrsmittel“ der Wahl.

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In Baden-Württemberg kommt der Zug ab 2023 testweise zum Einsatz. Mobility-Chef Peter berichtet von großem Interesse bei Politik und Kommunen. Bis 2050 werde sich der Personenverkehr „verdreifachen“. Und gegenüber eines reinen Batteriezuges sei der Miro Plus H deutlich im Vorteil: Er beschleunige schneller und fahre 800 Kilometer weit. Vor allem solle ein Zug „in 15 Minuten betankt“ sein können. Damit stünde der Innovation als Ersatz für fossil-betriebene Züge nichts mehr im Wege. Peter: „Der Ausstieg aus der Antriebsform Diesel ist ein Muss.“

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