Wer sich in den Norden der Insel Sylt begibt, hat in List die Auswahl: Backfisch vom Grill in der Alten Bootshalle von Gosch. Oder das „große Gaumenkino“, den „Küstenpanzer“ – „ein bretonischer Hummer in Vanille confiert, begleitet von Couscous, Ananas (gebraten, gefriergetrocknet und als Membran) und klarem Safransud“ im Restaurant La Mer des Hotels A-Rosa. Speisen wie die letztere sind es, die dem verantwortlichen Koch anerkennende Worte im Gault Millau samt 17 von 20 Punkten und zwei Sterne im Guide Michelin einbrachten. Kein Führer, der nicht Sebastian Ziers Kreationen lobte. Doch wer sie auf Sylt erleben möchte, muss sich sputen. Das Restaurant schließt am 4. Januar 2015. Nicht weil die Qualität des Essens nicht stimmte. Sondern weil zu wenig Hotelgäste gekommen sind.
Casual Dining im Modehaus
Für Horst Rahe, Geschäftsführer der Deutschen Seereederei, zu der neben der Deutschen Immobilien AG auch die Hotels Louis C. Jacob in Hamburg und die vier Betriebe der A-Rosa-Gruppe gehören, standen Aufwand und Ertrag in keinem sinnvollen Verhältnis mehr. „Nur fünf Prozent der Hotelgäste besuchten das La Mer, 10 bis 15 Prozent hätten es sein müssen“, sagt Rahe, der aufwendige Haute Cuisine in den Urlaubshotels unter der Marke A-Rosa abschafft. Rund 200 000 Euro Verlust habe das La Mer jährlich der Bilanz des Betriebes aufgebürdet: „Die Gäste möchten im Urlaub nicht mehr so steif und vornehm essen gehen.“ Das zweite Restaurant im A-Rosa, das Spices, setzt ebenfalls auf „Casual Dining“, ohne Zwang und wenig Etikette. Dass es einen Stern im Guide Michelin hat, wird nicht extra betont. „Heute haben wir eine Inflation an Sterneküche, und es wird immer schwerer, Verständnis dafür zu gewinnen, dass ein Abend 200 Euro pro Person kosten soll“, sagt Rahe.
Die Leistungen der deutschen Spitzenköche werden jedoch immer besser. Darin sind sich die Kritiker der Restaurantführer von Aral über Feinschmecker bis Varta einig. Die Aufwertungen im Gault Millau übersteigen so unterm Strich die der Abwertungen. Der Guide Michelin vergibt in seiner Ausgabe 2015 an 31 Restaurants erstmals einen Stern, drei dürfen sich über einen zweiten freuen. Dem stehen 24 Restaurants gegenüber, die einen Stern verloren haben. Darunter auch Altmeister Jörg Müller auf Sylt, der sich nach Jahrzehnten der Haute Cuisine entschlossen hat, mit Jahresbeginn in den Räumen seines ehemaligen Gourmetrestaurants ein bodenständigeres Angebot zu servieren. Im Kontrast dazu stehen die Erfolge von auf den ersten Blick überraschenden Orten für ein Gourmetrestaurant: das Ammolite als Teil des Europaparks Rust und das entspannte Opus V in der sechsten Etage des Modehauses Engelhorn in Mannheim. Beiden gemein: ein Sponsor. Europapark-Chef Roland Mack kam eigens nach Berlin, um den zweiten Michelinstern für sein Restaurant in Empfang zu nehmen. Modehaus-Chef Richard Engelhorn wollte ebenfalls „partout ein Restaurant mit Stern“, wie ein Mitarbeiter sagt. Und hat das geschafft.
Noch immer versprechen sich Restaurantbetreiber mehr Umsatz von hohen Bewertungen. Doch diese Rechnung geht nicht automatisch auf. Viele Gäste mögen dem, was die Berichterstattung rund um die feine Küche als führend und wegweisend bezeichnet, nicht folgen. „Der Medienhype, der um die Köche entstanden ist, hat dazu geführt, dass plötzlich jeder Koch kreativ sein muss. Das ist zu viel erwartet“, sagt Patricia Bröhm, Chefredakteurin der deutschen Ausgabe des Gault Millau. Allzu oft überließen Köche die Entwicklung unbekannter Geschmackserlebnisse den Kollegen und kopierten diese einfach: „Da gibt es auf einmal überall Mais in Texturen.“ Beschleunigt wird die Verbreitung der Moden durch das Internet. „Unheimlich viele Köche klicken sich durch Blogs und Foren und lassen sich so verrückt machen“, sagt Bröhm. Wenn jedoch ideenlos den großen Trends nachgespürt wird, bleibt die eigene Handschrift auf der Strecke.
Küchenleistung mit objektiven Kriterien?
Dass nicht alles, was aus der Perspektive der Küchenkritiker Lob findet, bei den Gästen ganz vorne liegt, weiß auch Markus Oberhäußer, Chef des Gourmetführers Gusto. Dessen besonderer Service: Interessierte Restaurants können sich für 199 Euro plus Mehrwertsteuer einen Test bestellen. Ausgang ungewiss, wie Oberhäußer versichert. Dieses Jahr überrascht der Führer damit, in die allerhöchste Wertung 10+ neben bekannten Küchenchefs wie Joachim Wissler vom Vendôme in Bensberg und Christian Bau in Perl auch den Leipziger Koch Peter Maria Schnurr vom Restaurant Falco und Dirk Luther von der Meierei in Glücksburg aufzunehmen. Diese vier stehen in den Augen des Gusto damit noch über den seit Jahren in allen Führern vorne liegenden Köchen wie Harald Wohlfahrt oder Klaus Erfort. „Die Spitze eint die Weiterentwicklung“, sagt Oberhäußer, der sich nicht nur auf den Geschmack verlässt, sondern glaubt, Küchenleistungen mit objektiven Kriterien bewerten zu können. „Die Kontraste der Aromen sind noch intensiver bei den allerbesten Küchen“, findet der Gusto-Chef. Aber „ob das nach unseren Kriterien und Vergleichswerten höher zu Bewertende auch in den Augen unserer Leserinnen und Leser immer das Bessere und Richtige ist, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt“, schreibt Oberhäußer in seinem Vorwort.
Trends auch mal ignorieren
In den Betrieben der A-Rosa-Gruppe haben die Gäste schon entschieden. Allzu große Förmlichkeit und stille Andacht vor den Tellern ist nichts, was Urlaubsgäste in die Hotels locken würde. Statt Haute Cuisine mit gestärktem Tischtuch soll die Unterhaltung zwischen den Gästen im Mittelpunkt steht. Wie zum Beispiel im Buddenbrooks im A-Rosa Travemünde, das mit „Seiger’s Esszimmer“ eine Besonderheit bietet: Hier können Gäste mit Halbpension an einer langen Tafel gemeinsam ein Drei-Gang-Menü ordern. Dass das Restaurant in der Ausgabe 2015 des Guide Michelin nach dem Weggang von Küchenchef Christian Scharrer statt zwei nur noch einen Michelinstern hat, stört Rahe nicht.
Deutsche Restaurants mit drei Michelin-Sternen
Bareiss im Hotel Bareiss in Baiersbronn / Claus-Peter Lumpp
Schwarzwaldstube in der Traube-Tonbach, Baiersbronn / Harald Wohlfahrt
Vendôme in Bergisch-Gladbach/ Joachim Wissler
La Belle Epoque in Lübeck / Kevin Fehling
Amador in Mannheim /Juan Amador
La Vie in Osnabrück / Thomas Bühner
Victor’s Gourmet Restaurant Schloss Berg in Perl / Christian Bau
Restaurant Überfahrt in Rottach-Egern / Christian Jürgens
Gästehaus Klaus Erfort in Saarbrücken
Waldhotel Sonnora in Wittlich/Dreis / Helmut Thieltges
Aqua in Wolfsburg / Sven Elverfeld
„Es gibt Konzepte und Standorte, da funktioniert Gourmetküche einfach nicht“, räumt Ralf Flinkenflügel, Chefredakteur des Guide Michelin, ein. Dass dies mit übertriebenem Innovationsdruck zu tun habe, streitet Flinkenflügel ab: „Wenn Köche nicht neue Dinge ausprobieren würden, wo wäre die Küche denn heute? Allerdings: Jedem Trend hinterherzulaufen halte ich auch nicht für richtig.“
In den Augen seiner Kollegin Patricia Bröhm sind das zurzeit Trendprodukte wie Rüben, Popcorn oder Stabmuscheln. Oder der Ansatz, auf regionale Produkte zu setzen, ein weltumspannender Trend, für den vor allem René Redzepi vom Restaurant Noma in Kopenhagen steht, dem laut Ranking eines britischen Gourmetmagazins besten Restaurant der Welt. „Heute sind landauf, landab kleine Redzepis am Werk, die darin wetteifern, die ausgefallensten Produkte aus Feld, Wald und Wiesen auf die Teller zu zwingen“, schreibt Bröhm im Vorwort des Gault Millau.
Den Testern scheint ihr bisweilen vielleicht nur missverstandener Ruf nach Innovation inzwischen selber nicht geheuer. „Ein guter Koch muss nicht zwingend ein großer Kreativer sein (davon gibt es in jeder Küchengeneration nur sehr wenige)“, schreibt Bröhm. Auch ihr Kollege, Gusto-Chef Oberhäußer, warnt die Leser: Alles, was hoch bewertet sei, markiere zwar die Spitze der Küchenkunst, sei aber nicht zwingend das, was die Tester in ihrer Freizeit selber essen wollten: „Selbst für uns müssen Köche, die wir aus professioneller Kritiker-Sicht höher bewerten, noch lange nicht dieselben sein, die wir unter ganz persönlichen, subjektiven Gesichtspunkten jederzeit vorziehen würden.“ Für Sebastian Zier vom La Mer kommt die Erkenntnis, dass großes Lob nicht immer eine Empfehlung ist, zu spät.