Studie Deutsche wissen nicht, wie viel sie fürs Streaming ausgeben

Der neue Video-Streaming-Dienst „Disney+“ Quelle: REUTERS

Laut einer Studie geben die Deutschen im Schnitt heute doppelt so viel für Video-Streaming aus wie noch vor zehn Jahren – ohne ein Bewusstsein dafür. Was bedeutet das für die neuen Streaming-Anbieter Apple und Disney?

  • Teilen per:
  • Teilen per:

„Ich geb‘ dir Net, du gibst mir Flix
Wo ist das Becks, wo sind die Chips?
Heute zähl'n wir keine Kalorien
Die Leitung steht für'n guten Stream“

So beschreibt die Hamburger Band Deichkind im Lied „Cliffhänger“ auf ihrem neuen Album eine weit verbreitete Realität in deutschen Wohnzimmern. Denn der Strom an Video-Daten in Deutschland nimmt rasant zu. Laut einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey, die der WirtschaftsWoche exklusiv vorliegt, haben sogenannte Video-on-Demand-Dienste, also die gleichzeitige Übertragung und Wiedergabe von Videos, hierzulande zwischen 2012 und 2018 um 40 Prozent dazugewonnen. Verlierer dieser Entwicklung sind, wenig überraschend, die klassischen DVDs. 

Streaming-Dienste haben das Fernsehverhalten verändert. Seit wenigen Jahren ist theoretisch niemand mehr auf Fernsehprogramme angewiesen. Alle Serien und Filme sind immer und überall verfügbar – zumindest wo es ausreichend Netz gibt. Wer gedacht haben sollte, dass die Deutschen aufgrund der Rundfunkgebühren wenig Bereitschaft zeigen, zusätzlich Geld für Filme und Serien auszugeben, hat sich getäuscht: „Es gibt eine große Anzahl an Haushalten, die für Video-Content Geld ausgibt, und diese Anzahl ist in den letzten Jahren massiv gestiegen“, sagt Thomas Schumacher, Medienmarkt-Experte und Partner bei McKinsey. „Das hat es vor zehn Jahren nicht gegeben und war so auch nicht absehbar.“ Und nun kommen mit Apple TV+ und ab kommendem Jahr mit „Disney+“ zwei weitere Akteure auf den deutschen Markt

Am Dienstag startet Disney mit einem eigenen Streaming-Abo den Großangriff auf Netflix, Amazon und Co. Konzern-Chef Bob Iger beginnt so eine Materialschlacht, wie es sie in der Medienindustrie so noch nie gegeben hat.
von Peter Steinkirchner

Laut der McKinsey-Studie haben die Deutschen im vergangenen Jahr pro Haushalt durchschnittlich 112 Euro ausgegeben für sogenannte Home-Video-Inhalte. Darin enthalten sind auch noch DVDs, zum Kaufen wie zum Leihen. Den größten Anteil macht mit 60 Prozent das Bezahlfernsehen aus, etwa der Bezahlsender Sky. Aber der Streaming-Anteil lag im vergangenen Jahr bei 31 Prozent und damit so hoch wie noch nie in dieser Rubrik; vor zehn Jahren gab es die Videos per Datenstrom noch gar nicht. Netflix und Amazon Prime Video starteten hierzulande erst 2014. „Wie man sieht, hat sich in Deutschland das Video-Streaming-Angebot seine Nachfrage selbst geschaffen“, sagt Schumacher.

Rund die Hälfte aller deutschen Haushalte nutzt Abo-Streaming-Dienste: Laut McKinsey-Umfrage verwenden 27 Prozent der Befragten einen Dienst, 16 Prozent zwei verschiedene Anbieter, acht Prozent sogar drei und mehr. Deutliche Streaming-Marktführer in Deutschland sind Amazon Prime Video (mit 30 Prozent) und Netflix (28 Prozent). Es folgen Magenta TV von der Deutschen Telekom (7 Prozent) sowie die Sport-Spezialisten Sky Ticket (5 Prozent) und Dazn (4 Prozent). „Die Steigerungsrate ist auf zwei Effekte zurückzuführen“, sagt Thomas Schumacher: „Zum einen gucken heute viel mehr Menschen Video-Stream, als früher DVDs gekauft oder ausgeliehen haben. Und zum anderen gibt es auf dem deutschen Video-Stream-Markt keine Winner-takes-it-all-Situation. Neben den beiden klaren Marktführern Amazon und Netflix gibt es eine ganze Reihe weiterer Anbieter, die in Summe auch nicht gerade klein sind.“

Es lohnt zudem die Aufschlüsselung der Nutzer nach Altersgruppen. Deutsche zwischen 18 und 24 Jahren dürften für die Anbieter besonders interessant und lukrativ sein: Sie haben mit höherer Wahrscheinlichkeit zwei Streamingdienste (36 Prozent) als nur einen (27 Prozent) oder gar keinen (25 Prozent). Drei oder mehr verschiedene Streaming-Anbieter nutzen immerhin 12 Prozent dieser Altersklasse. Mit zunehmendem Alter werden die durchschnittlich abonnierten Streamingdienste weniger: Die 25- bis 34-Jährigen nutzen im Schnitt noch 1,2 Streamingdienste, bei den 35- bis 44-Jährigen ist es bereits wahrscheinlicher, dass kein Streaming-Abo abgeschlossen ist (49 Prozent der Befragten dieser Altersklasse). Allerdings hat in dieser durchaus kaufkräftigen Alters- und Zielgruppe auch jeder Vierte einen Dienst und fast jeder Sechste deren zwei abonniert. 

Vor drei Monaten jagte Netflix seinen Aktionären mit stagnierenden Nutzerzahlen einen Schrecken ein. Im vergangenen Quartal lief es deutlich besser. Nun eröffnen Disney und Apple die Jagd auf den Streaming-Marktführer.

Natürlich funktioniert der Wettbewerb der Video-Streaming-Anbieter auch über den Preis. Und gerade für die preissensiblen Deutschen fördert die Umfrage diesbezüglich eine interessante Erkenntnis zutage: Gefragt nach ihren geschätzten jährlichen Ausgaben für Video-Inhalte lag die Durchschnittsangabe der Befragten mit 115 Euro erstaunlich nah an der Realität (112 Euro).

Und die jährlichen Ausgaben für Video-Inhalte vor zehn Jahren? Laut der Umfrage schätzen die Deutschen, dass sie vor zehn Jahren auch – im Durchschnitt – 115 Euro im Jahr ausgegeben haben, also genauso viel wie heute. Tatsächlich aber lag der durchschnittliche Wert im Jahr 2008 bei 60 Euro – die Ausgaben haben sich also nahezu verdoppelt. „Die Deutschen empfinden offenbar diese Substitution – weg von der Leih-DVD, hin zum Video-Stream – nicht als Mehrausgabe“, erklärt McKinsey-Partner Schumacher. „Das ist ein Indiz dafür, dass Netflix und Amazon hier viel richtig gemacht haben.“

Den neuen Dienst „Disney+“ planen laut McKinsey fünf Prozent der Befragten zu abonnieren. „Disney+“ wurde am Dienstag in den USA, Kanada und den Niederlanden eingeführt, im kommenden Frühjahr soll er in Deutschland zur Verfügung stehen. Der US-Medienkonzern Disney greift somit weiter an: Erst im März hat das Unternehmen die Filmproduktionsgesellschaft 20th Century Fox gekauft. Und in den Niederlanden, dem ersten europäischen Markt, hat Disney seine Plattform bereits vor dem Nordamerika-Start getestet und Nutzern Gratiszugang gewährt. Und auch auf dem deutschen Markt werde Disney seine Abnehmer finden, glaubt Schumacher: „Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Menschen ihren Konsum einschränken werden.“

Disney und Apple greifen an

Disney greift mit seinem Streaming-Dienst vor allem Netflix an, das bisher viele Disney-Filme gezeigt hatte; aber auch bei Amazon Prime Video sind Disney-Klassiker verfügbar – in der Regel gegen Aufpreis. Nutzer von Disney+ müssen derzeit in den USA 6,99 US-Dollar im Monat zahlen. Dafür bietet der Dienst rund 500 Filme und 7500 Episoden von Fernsehshows, zum Disney-Reich gehören auch Pixar, Marvel und Star Wars. „Die Leute folgen dem Content“, sagt Schumacher. „Und wenn Disney attraktiven Content bietet, auch für eine spitzere Zielgruppe, wäre mein Tipp, dass sich auch das neue Angebot weiterhin seine Nachfrage schafft.“

Viele denken: Deutsche Fernsehsender können es nicht mehr mit Netflix, Amazon Prime und Disney+ aufnehmen. Das stimmt nicht. Das Problem ist nicht der Inhalt, es ist die Form der Darreichung. Wir brauchen einen Wandel.
von Marcus Werner

Natürlich sind die beiden Marktführer derzeit auch quantitativ weit enteilt: Amazon Prime Video hat laut der US-Streaming-Suchmaschine Reelgood 14.210 Filme und 2.317 Serien im Angebot. Netflix bietet 3.803 Filme und 1.966 Serien an. Und „Apple TV+“? Hat weniger als ein Dutzend Serien im Angebot. Dafür kostet der am 1. November gestartete Dienst auch nur 4,99 Euro im Monat – weniger als die Hälfte des Netflix-Abos (11,99 Euro im Monat). Wer ein neues Apple-Gerät erwirbt, darf gar ein Jahr lang gratis schauen. Und die wenigen Inhalte sind hochkarätig besetzt: etwa die Drama-Serie „The Morning Show“ mit Reese Witherspoon und Jennifer Aniston, die Serie „Amazing Stories“ von Steven Spielberg oder die Bücher-Empfehlungen der Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey. „Apple bietet derzeit noch ein deutlich kleineres Angebot an Serien als die Wettbewerber, und das Programm ist auch noch sehr auf den US-Markt zugeschnitten“, sagt Schumacher, „aber das ist auch lediglich eine Momentaufnahme.“

Die neuen, noch kleineren Anbieter hoffen auf ihre Lücke zwischen Amazon Prime und Netflix, und auf den wachsenden Markt. „Der Kuchen scheint derzeit zwar verteilt“, sagt Schumacher, „aber vermutlich wird er einfach noch größer werden.“ Damit es im nächsten Deichkind-Song nicht wieder heißt:

„Heute Abend Netflix oder Prime, was ziehen wir uns nachher rein

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%