Ein Moment der Unachtsamkeit und das Portemonnaie ist futsch, der Ärger groß: Ausweispapiere, Bankkarten und Führerschein müssen neu beschafft werden. Das kostet Zeit, Geld und ist vor allem eines: verdammt ärgerlich.
Dieses Schicksal ereilt scheinbar immer mehr Fahrgäste der Bahn. Die Zahl der Taschendiebstähle am Bahnhof und in der Bahn nimmt zu, berichtet die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) unter Berufung auf den bislang unveröffentlichten Jahresbericht der Bundespolizei.
2014 zählte die Statistik demnach 35.800 Taschen- und Gepäckdiebstähle – schon das ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 2015 war der Anstieg gegenüber dem Vorjahr noch größer – die Delikte stiegen um 25 Prozent auf 44.800. Bei der Bahn ist man sich des Problems bewusst, eine Erklärung hat man aber nicht. „Wir können die Zunahme der Diebstähle nicht erklären, weil wir nur wenig über Täter, Täterprofile und Täterorganisation wissen“, sagt ein Sprecher der Bahn, betont aber, dass die Bahnmitarbeiter von den Erkenntnissen der Bundespolizei profitierten.
In Anbetracht der steigenden Zahlen fordert Hans-Hilmar Rischke, Sicherheitschef der Deutschen Bahn, eine konsequentere Verfolgung der Täter: „Uns machen insbesondere viele polizeibekannte Wiederholungstäter zu schaffen. Daher wünschen wir uns von der Justiz, dass Straftäter konsequenter bestraft werden und ihnen so das Handwerk gelegt wird“, sagt er. Bahnmitarbeiter und Polizisten erwischten mitunter denselben Täter mehrmals am Tag am selben Bahnhof.
Das sind die Maschen der Taschendiebe
Während der Bahnfahrt haben Passagiere viel Zeit totzuschlagen. Bevorzugtes Instrument dafür ist das Smartphone. Wenn der Zug stoppt, begeben sich die Täter in die Nähe des Reisenden und entreißen ihm das Handy kurz bevor die Tür schließt und flieht.
Ähnlich wie der Rolltreppen-Trick funktioniert auch der Rempel-Trick. Ein Täter bleibt plötzlich stehen, das Opfer läuft aus. Während des daraus resultierenden Moments der Verwirrung zieht ein zweiter Täter die Wertsachen aus der Tasche. Bevorzugte Tatorte für diesen Trick sind öffentliche Verkehrsmittel und Ein- und Ausgangsbereiche von Zügen.
Ist es voll im Zug, rückt der Taschendieb unangenehm dicht an das Opfer heran. Dahinter steckt das Kalkül, dass das Opfer sich abwendet und dem Täter die Handtasche darbietet.
Der Taschendieb fragt sein Opfer nach einer Zugverbindung. Während das Opfer auf dem Fahrplan nach den Informationen für die Auskunft sucht, greift der Taschendieb unbemerkt in die Handtasche.
Geht es nach der Disco angetrunken und übermüdet mit der Bahn zurück gen Heimat, haben Taschendiebe oft ein besonders leichtes Spiel. Sie warten, bis das Opfer einnickt und nehmen es dann aus.
Der Taschendieb guckt Fahrgäste aus, die ihr Portemonnaie in der Gesäßtasche mit sich führen. Mit einem scharfen Gegenstand schlitzt er die Tasche auf und fängt das herausfallende Portemonnaie auf.
Der Täter beschmiert die Kleidung des Opfers „ausversehen“ mit Senf oder Ketchup und zeigt sich hilfsbereit. Während er die Kleidung mit einem Taschentuch säubert, nutzt ein anderer Täter die abgelenkte Aufmerksamkeit des Opfers aus und greift zu.
Taschendiebe bieten ihre Hilfe an und helfen dem Opfer die Reisetasche in den Zug zu tragen. Während der Taschenträger vorgeht oder einen Stau provoziert, stielt ein Mittäter die Wertgegenstände aus der Umhängetasche des Opfers.
Von außen klopft ein Täter am Bahnhof an die Scheibe des Zugs und bittet vermeintlich um Auskunft. Das Opfer ist abgelenkt. Ein anderer Täter nutzt die Situation aus und entwendet etwa die abgelegte Tasche.
Ein Täter hält die Rolltreppe mit der Nothilfeeinrichtung an. Im Gedränge wird das Opfer von einem zweiten Täter angerempelt, der die Wertsachen entwendet.
Rainer Wendt, Polizeihauptkommissar und Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, überrascht die Zunahme der Diebstähle nicht. „Das war aus zweierlei Gründen zu erwarten. Zum einen ist die Justiz genauso überlastet wie die Polizei.“ Laut Wendt fehlten mindestens 2000 Richter und Staatsanwälte. „Die Staatsanwälte ersticken in Vorgängen und kommen faktisch nicht mehr dazu, weitere Täter anzuklagen.“ Zum anderen „arbeitet die Justiz noch vorsintflutlich und ist nicht ausreichend vernetzt“. Habe ein Staatsanwalt einen Intensivtäter vor sich, so sehe er nicht die hunderten Ermittlungsverfahren, die in Nachbarbehörden gegen den Täter liefen. „Sähe der Staatsanwalt die Zahl der Verfahren bundesweit, die gegen einen Täter laufen, würde er eher einen Haftbefehl beantragen.“
Laut Bundespolizei handelt es sich bei den Tätern oftmals um Profis, die arbeitsteilig und in Gruppen von bis zu sechs Personen agieren. Die Maschen, die sie nutzen, sind oft dieselben. Ein Täter etwa fragt das Opfer nach Hilfe beim Suchen einer Verbindung auf dem Fahrplan, ein anderer klaut die Tasche des abgelenkten Opfers.
Karl-Peter Naumann, Ehrenvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn, sieht gleich mehrere Gründe für die Zunahme der Diebstähle – und nicht alle sind negativ. Die Passagiere seien sich der Problematik um die Taschendiebe mittlerweile deutlich bewusster. „Seitdem das ein Thema in den Medien ist, zeigen die Fahrgäste solche Diebstähle eher an“, sagt Naumann. Auch das trüge zum Anstieg in der Statistik bei.
Wie Fahrgäste sich schützen können
Um das Bewusstsein weiter zu steigern, haben Bundespolizei und Bahn eine gemeinsame Präventionskampagne ins Leben gerufen: „Achten Sie auf Ihre Wertsachen“ ist auf Plakaten in Zügen und Bahnhöfen zu lesen. „Wir versuchen die Fahrgäste zu sensibilisieren“, sagt ein Bahnsprecher. „Wer im Zug sitzt, ist nicht so sicher wie im heimischen Wohnzimmer.“
Die Videoüberwachung wurde ausgebaut – aktuell sind 27.000 Videokameras in Nahverkehrs- und S-Bahn-Zügen im Einsatz, die Hälfte aller Fahrzeuge im Nahverkehr ist mittlerweile mit Kameras ausgestattet. Außerdem sind 5000 Kameras an rund 700 Bahnhöfen im Einsatz. „Rund 80 Prozent der Fahrströme erfassen wir mit unserer Videotechnik“, sagt ein Bahnsprecher. Das helfe sehr bei der Aufklärung von Straftaten und erhöhe das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste.
Zudem würden Bahnmitarbeiter von Experten der Bundespolizei ausgebildet, die sich mit Taschendiebstählen befassen. Über die genaue Zahl der ausgebildeten Mitarbeiter gibt das Unternehmen keine Auskunft. Von einer Zahl im mittleren zweistelligen Bereich ist die Rede. Die Mitarbeiter sind in Zivilkleidung am Bahnhof unterwegs und sollen die Täter beobachten, stellen und der Polizei übergeben. „Die Zusammenarbeit mit der Bahn ist lückenlos“, sagt Polizeigewerkschafter Wendt. „Da ist nichts zu bemängeln.“
Aus Naumanns Sicht kann die Bahn trotzdem mehr tun – das fängt schon bei Kleinigkeiten an. „Die Wege an Bahnhöfen müssen deutlich besser ausgeschildert werden“, fordert Naumann. Eine Frau etwa, die mit einer offenen Handtasche im Bahnhof stehen bliebe und sich auf der Suche nach dem Weg verwirrt umguckt, ist Taschendieben ein leichtes Opfer. „Die Leute müssen in Bewegung bleiben, dann ist es für Taschendiebe sehr viel schwerer.“
"Taschendieben wird es zu leicht gemacht"
Doch Verantwortung dafür, die Zahl der Diebstähle zu reduzieren, haben auch die Fahrgäste: „Taschendieben wird es viel zu oft viel zu leicht gemacht“, sagt der Bahnsprecher. So sollten Fahrgäste Wertgegenstände wie Handy und Portemonnaies immer am Körper tragen und nicht in Taschen, auf die man von außen zugreifen kann. Die Polizei empfiehlt, Rucksäcke und Taschen im Gedränge seitlich oder vorn zu tragen, sodass Diebe nicht von hinten unbemerkt das Portemonnaie aus dem Rucksack fischen können. Auch wenn andere Fahrgäste einen anrempeln oder bedrängen, sollten Passagiere wachsam sein.
Grundsätzlich sind die Taschendiebe zu jeder Zeit unterwegs. Gerade wenn an den Bahngleisen viel Gedränge herrscht und die Züge voll sind, greifen sie häufig zu. Etwa morgens und nachmittags, wenn viele Pendler unterwegs sind. Auch nachts, wenn die Menschen aus der Disco und von Partys alkoholisiert und müde gen Heimat fahren, machen Taschendiebe leichte Beute.
Aus Wendts Sicht hilft am Ende nur intelligente Videoüberwachung an Bahnhöfen. In Berlin testet die Bundespolizei an einem Bahnhof gerade Kameras, die selbst verdächtige Situationen erkennen. Treffen in einer Bahnhofshalle etwa alle 30 Minuten die drei selben Menschen in verschiedenen Ecken zusammen – ein typisches Bewegungsmuster von Taschendieben – macht die Videosoftware auf das verdächtige Verhalten aufmerksam. Die Bundespolizei würde so entlastet.