Tauchsieder Die drei Lügen der Reisebranche

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Dank Smartphone selbst in Myanmar nichts Neues

Heute hingegen schleichen sich selbst die allermeisten „Individualreisenden“ gruppenweise von Pancake-Hostel zu Pancake-Hostel durch Myanmar oder Bolivien auf längst ausgetretenen Trampelpfaden.
Die Folge: Was das überraschungsarme Wohlversorgt-Sein und die touristische Distanz zum bereisten Land anbelangt, so gibt es zwischen Rucksack-Tramp, Bettenburg-Bewohner und Fünf-Sterne-Genießer heute kaum noch Unterschiede.

Hinzu kommt: Dank Skype, Facenbook und WhatsApp und dem Smartphone als portablem Heimathafen kommen Geschäfts- und Urlaubsreisende heute weniger denn je raus aus ihren Kreisen. Stattdessen drehen sie im immer gleichen Kosmos ihre Runden um sich selbst ganz gleich, vor welcher Kulisse sie sich gerade aufhalten. Namentlich bei Facebook der digitalen Tanzstange unseres Privatlebens verschmelzen die Menschen ihr Berufs- und Privat-Ich zur bilderreichen Fiktion eines gesamtkünstlerisch gelingenden Lebens, das kein Innen und kein Außen mehr kennt.

Entsprechend legiert werden die Zeugnisse von Geschäfts- und Berufsreisen: zu ununterscheidbaren, gleichrangig wertvollen Episoden, nahtlos verfugt und arrangiert zur unendlichen Seifenoper, die man mit Blick auf seine „Freunde“ von sich selbst entwirft.

Ein Work-Out am Starnberger See und eine Mehrtageswanderung durch den Harz, ein Shopping-Wochenende in Barcelona und der erfrischende Ausblick aus dem Berliner Soho-Hotel am Morgen vor der Re:Publica-Konferenz, ein schneller Segeltörn in der Karibik mit Langusten an Deck nach der IWF-Frühjahrstagung und sechs coole Rucksack-Wochen in Thailand (geile Full-Moon-Party auf Ko Phangan!) das alles ist heute insofern einerlei, weil es der additiven Formung und Stabilisierung eines restlos entäußerten, zugleich restlos mit sich selbst identischen, jedenfalls nicht mehr Außer-sich-sein-Wollenden Egos dient: einem „Ich-Ich“, das rund um die Uhr auf sich selbst zeigt, um die Welt auf sein glückendes In-der-Welt-Sein aufmerksam zu machen ob im Büro oder zuhause, ob geschäftlich auf Reisen oder privat.

Es ist ein Ich, das nicht mehr unterwegs ist, wie einst, um seinen Lebensfluss zu unterbrechen, verloren zu gehen, sich selbst zu befragen. Sondern ein Ich, das unterwegs ist, um sein Ich vor dem Hintergrund wechselnder Landschaften in Szene zu setzen und zu behaupten. Der identitäre Reisende sucht erstens alles, zweitens immer und drittens zugleich: Arbeit und Freizeit, Zuflucht und Zugang, Pool und Schreibtisch, Wellness und WLAN weshalb er über seinen verstauchten Zeh twittert und seinen Sonnenbrand postet so wie er seine Meinung zu Donald Trump kundtut und das 3:0 von Klopps Liverpool gegen Manchester City favorisiert. Ich bin ich bin ich, das ist alles ganz gleich wo und unter welchen Umständen…

Wenn aber das Reisen aus all diesen Gründen zweck- und sinnlos geworden ist: Warum bleiben wir an diesem ersten langen Sommersonnenwochenende nicht einfach zuhause und lesen, sagen wir: „Die Kartause von Parma“? Stendhal hat den 1000-Seiten-Roman bekannterweise den „happy few“ gewidmet, die klug genug sind, sich ihn vorzunehmen. Ganz so, wie zu seiner Zeit, Anfang des 19. Jahrhunderts, noch Florenz und Siena den „happy few“ vorbehalten waren und ihrer theatralischen Sendung, mit Goethe das Land zu bereisen, „wo die Zitronen blühn“.

Entsprechend konnte Stendhal 1817 in seiner „Reise nach Italien“ wohl noch seelisch leicht entflammbar sein beim Anblick der Kunstschätze und tatsächlich berichtet er, wie er bei der Besichtigung der Kirche Santa Croce, der Grabmäler von Michelangelo, Dante und Galilei, vor Begeisterung buchstäblich den Boden unter seinen Füßen verlor: „Ich befand mich bei dem Gedanken, in Florenz zu sein, und durch die Nähe der großen Männer in einer Art Ekstase ... Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen ... Ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.“

Beinahe 9000 Menschen können auf dem größten Kreuzfahrtschiff der Welt bald speisen, trinken, shoppen, spielen oder Broadway-Musicals anschauen. Wohin führt der Wettlauf um das beste Entertainment und den größten Luxus?
von Jacqueline Goebel

Die italienische Psychologin Graziella Magherini konnte daraus 1979 noch ein „Stendhal-Syndrom“ konstruieren: Das Schlendern durch toskanische Städte könne psychosomatische Störungen infolge kultureller Reizüberflutungen auslösen; zu den Symptomen zählten Panikattacken, Wahrnehmungsstörungen und Wahnvorstellungen.

Heutzutage ist das Stendhal-Syndrom besiegt, aber wenn ich mich nicht irre, habe ich bei meinem jüngsten Florenz-Besuch Ende November Angestellte der italienischen Tourismusbehörde dabei ertappt, wie sie nicht mehr nur braune Hinweisschilder an den Straßenrand montierten, die auf ein „Castello“ oder eine „zona archeologica“ hinweisen, sondern auch rot-schwarze Warnschilder mit dem Namenszug „Stendhal“.

Unbestätigten Berichten zufolge verfolgt die Behörde das Ziel, die „less fortunate“-Massen vom Florenz-Besuch abzuhalten, um den „happy few“ der wirklich Kulturinteressierten mal wieder einen Stendhal-Moment zu ermöglichen. Die Überzähligen sollen noch vor den Toren der Stadt abgefangen, zum nächsten Flughafen umgeleitet und vom deutschen Innenministerium großzügig entschädigt werden: mit einer Kreuzfahrt in ihre Heimat.

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