Seit der argentinische Nationaltrainer César Luis Menotti vor dreieinhalb Jahrzehnten die Theorie des linken und rechten Fußballs ersann und seine „talentierten, klugen Spieler“ mit dem 3:1 im WM-Finale von 1978 nicht nur die Niederlande und die Militärjunta, sondern auch die „Diktatur der Taktik“ und den „Terror der Systeme“ besiegten, wurde auch in Deutschland linker und rechter Fußball gespielt.
Die Rollen waren klar verteilt: Für den linken Fußball, der „die Intelligenz feiert, die Fantasie fördert und auf die Mittel schaut, mit denen das Ziel erreicht wird“, war Borussia Mönchengladbach zuständig. Und für den rechten Fußball, der „viel von Opfern und Arbeit redet, der den Blick nur auf das Resultat wirft und die Spieler zu Söldnern des Punktgewinns degradiert“, die Münchner Bayern.
Erfolglos und uncool
Man wusste vermutlich schon damals, wohin das früher oder später führen würde: Gladbach stand das ein oder andere Mal mit einem Bein in der Zweiten Liga, die Bayern fast jedes Jahr vor dem Titelgewinn. Bis zuletzt das erfolglos Linke nicht mehr sexy, cool, anarchisch war, das Rechte hingegen weltläufig, up to date, en vogue.
Seither war im deutschen Fußball ein weißgewaschener Konzern mit glattpolierter Oberfläche und DIN-zertifizierten Managementmethoden auf dem Vormarsch, betont anschlussfähig für Sponsoren aus der DAX-Liga, sei es auf dem Rasen oder aber abseits des Platzes: mit hochbezahlten, unbedingt loyalen Angestellten in Lederhosen und karierten Hemden - und neuerdings mit einem Model-Trainer, der so smart aussieht wie ein Vorstandsvorsitzender im Silicon Valley.
Small Talk WM
Zwei Wochen brauchte die rumänische Nationalmannschaft im Sommer 1930 von Bukarest nach Montevideo. Außer ihr hatten nur drei weitere europäische Vereine den Weg nach Uruguay auf sich genommen – nämlich Belgien, Frankreich und Jugoslawien. Bei dieser ersten Fußball-WM gab es keine Qualifikationsrunde. Jede Nationalmannschaft, die Lust hatte, konnte teilnehmen.
Kommt die Sprache auf Spieler die verletzungsbedingt ausfallen, wie der Franzose Franck Ribéry oder Marco Reus, könnten Sie folgende Anekdote zum Besten geben: Dem spanischen Nationaltorwart Santiago Cañizares vermasselte eine Flasche mit Aftershave die Teilnahme an der WM 2002. Er wollte sich gerade im Badezimmer frisch machen, um mit seiner Mannschaft zu Abend zu essen, da viel ihm die Flasche hinunter. Aus Reflex versuchte Cañizares sie mit dem Fuß aufzufangen – aber keine Chance. Die Flasche zersplitterte, eine Scherbe durchtrennte eine Sehne im Fuß des Torwarts. Die WM war für ihn gelaufen.
Reiht sich Unentschieden an Unentschieden und Ihre Gesprächspartner sind sich schon einig, dass diese Ergebnisse für die Gruppenphase schon reichen werden, erwähnen Sie Neuseeland und die WM 2010. Ungeschlagen und mit drei Punkten im Gepäck verabschiedete sich die neuseeländische Nationalmannschaft nach Hause.
Auch wer sich auf dem Themengebiet Mode wohler fühlt, findet bei Fußball-Weltmeisterschaften immer wieder Anknüpfungspunkte. Zum Beispiel in Form des Hattrick-BHs, den ein japanischer Unterwäscheproduzent im Jahr 2002 pünktlich zur WM auf den Markt brachte. Die Körbchen des Büstenhalters waren mit Netzstoff überzogen und der BH für 145 Euro zu erstehen.
Das gilt für die Spieler der brasilianischen Nationalmannschaft von 1970. Nachdem die Brasilianer in Mexiko den WM-Titel gewonnen hatten, wurden sie in ihrem Heimatland von der Steuerpflicht befreit.
Viel diskutiert: Das Klima in Brasilien. Deutsche Fußball-Fans fürchten, dass die europäischen Mannschaften mit dem südamerikanischen Wetter nicht zurechtkommen – auch während der WM wird darüber weiterhin hitzig diskutiert werden. Ihr Anknüpfungspunkt: Die WM 1950 in Brasilien. Die Engländer hatten versucht, sich auf die Wärme vorzubereiten. Die Mannschaft trainierte in einem ehemaligen Flugzeug-Hangar, in den heiße Luft gepumpt wurde. Doch damit nicht genug: die Spieler mussten zusätzlich langärmlige Pullover tragen. Das Ergebnis des harten Trainings: Vorrunden-Aus.
Interviews mit Fußballern direkt nach dem Spiel haben meist einen geringen Mehrwert. Sie sind total ausgelaugt; bedienen sich der Phrasen, die ihnen die Medientrainer beigebracht haben. Ganz anders bei einer WM-Anekdote, die Sie bezüglich Interviews erzählen könnten. Abwehrspieler Paul Janes gab nämlich nach der WM 1934 in Italien ein legendäres Interview, das sich wie folgt liest: „Herr Janes, Sie waren mit der Nationalelf in Italien?“ - „Ja.“ - „Sind Sie mit dem Abschneiden zufrieden?“ - „Ja.“ - „Hätten Sie Weltmeister werden können?“ - „Nein.“ - „Der dritte Platz tut es auch?“ - „Ja.“ - „Wie war es in Italien?“ - „Warm.“
Die gängige Meinung ist, dass die deutsche Nationalmannschaft von dieser Entwicklung profitiert hat. Und tatsächlich: Vom anarchischen, gewitzten Mönchengladbach-Geist war sie allenfalls 1972 bis 1974 beseelt, ansonsten stets verlässlich unterwegs als fußballerische Abordnung des deutschen Handwerks: willig, fleißig und solide zwar, aber auch stets kleinbürgerlich, spröde, hölzern.
So gesehen, weil sie nichts Linkes zu verlieren hatte, konnte die deutsche Nationalmannschaft nur rechts hinzugewinnen. Und das ist ihr Problem.
Sie hat sich von einem Ensemble handverlesener Provinz-Handwerker zu einem managergeführten Konzern gemausert, in dem Wille, Fleiß und Solidität laufend optimiert werden, dem aber die inhabergeführte Mittelstandsseele fehlt, die zündende Geschäftsidee, die Leidenschaft für ein identifizierbares, singuläres Produkt. Wie konnte es dazu kommen?
"Athleten der Selbstoptimierung"
Nun, das durchlinierte deutsche Fußball-Elend hat vor ziemlich genau zehn Jahren angefangen. Am 26. Juli 2004, um genau zu sein, mit der Verpflichtung von Teamchef Jürgen Klinsmann als Nachfolger des glücklosen Rudi Völler.
Wir erinnern uns: Es war die Zeit, als auch die Politik anfing, Land und Leuten seine linken Flausen auszutreiben. Der organisierte Liberalismus stand damals im Zenit seiner Wirkungsmacht, war mit seiner Mischung aus sekundärtugendhaftem Sepp-Herberger-Geist ("Ärmel hochkrempeln") und Zukunftsfrohsinn ("Die Chancen der Globalisierung sehen und die Zukunft gewinnen") ein großes Versprechen, ja: eine Verheißung. Klinsmann - und sein damaliger "Assistent", der Fußball-Sachverständige Joachim Löw - verkörperten genau das, was Deutschlands intellektueller Chefcoach Peter Sloterdijk einen "Athleten der Selbstoptimierung" nennen würde.
Ein neues Mentalitätsregime
Man sollte das im Nachhinein nicht gering schätzen. Klinsmann und Löw haben damals ein neues Mentalitätsregime in Deutschland eingeführt, das weniger vom proletarischen Schweiß der Katsche Schwarzenbecks und Jürgen Kohlers erzählte, mehr vom "Land der Ideen" eines Bastian Schweinsteiger oder Mesut Özil. Klinsmann hat damals - ganz zeitgemäß - gemeint, Menottis dichotomische Weltsicht ließe sich konsensualisieren: Er wollte das Kreative (Linke) unter Kontrolle bringen, die Spontaneität rationalisieren, das nachlässige Genie verfleißigen.
Wieder weg von Platz 19 der Weltrangliste
Und tatsächlich, es schien zu funktionieren: Mit Klinsmann und Löw machten den Deutschen Eigenverantwortung und Effizienz, Spannkraft und Leistung plötzlich nach vorne drängelnden Spaß. Und tatsächlich waren die beiden Baden-Württemberger dann 2006, während der Fußball-WM in Deutschland, so etwas wie die sportliche Version der zwischenzeitlich zur Bundeskanzlerin avancierten Angela Merkel des Leipziger Parteitags: glühende Reformer, die Deutschland kreativ umbauen und modernisieren, es trainieren, erfrischen und auch mental ertüchtigen wollten. Man kann sagen, Klinsmann und Löw haben damals den McKinsey-Fußball nach Deutschland gebracht.
Großer Verdienst
Man darf nicht vergessen, dass die deutsche Nationalmannschaft damals auf Rang 19 der FIFA-Weltrangliste abgerutscht und hinter die aufstrebende Konkurrenz aus Mexiko und Kamerun zurückgefallen war. Nicht vergessen, dass in den Neunzigerjahren mehr als einmal deutsche Bundestrainer im Gespräch mit so genannten Fernseh-"Journalisten" die Fußball-Nation belehrten, dass es keine "so genannten kleinen Gegner" mehr gebe. Nicht vergessen, dass Deutschland damals längst kein bevorzugter Produktionsstandort für modernen Fußball mehr war, weil die Besten der Zunft nach Spanien, Italien, England strebten. Und nicht vergessen, dass die Spieler dabei nicht nur dem Lockruf des Geldes, sondern vor allem der Aussicht auf ein Arbeitsumfeld folgten, das sie als ihrer Qualifikation angemessen empfanden.
Der Weißrusse Alexander Hleb zum Beispiel, der 2005 vom VfB Stuttgart zu Arsenal London wechselte, hat seinen Wechsel damals sehr eindrücklich mit den wenigen Worten beschrieben, die Fußballern zuweilen zur Verfügung stehen: "In der Bundesliga hast du viel Zeit. In England aber geht es wusch, wusch, wusch, alles unglaublich schnell."
Deutschland hat die Konsequenzen daraus gezogen. Es hat die Effizienz seiner Rohstoffgewinnung erhöht, indem es seinen Nachwuchs nun in Internaten ausbildet. Es hat seine Wertschöpfungskette verlängert mit der gezielten Ausbildung, Veredelung und Vermarktung seiner Talente. Und es hat mit der drastischen Erhöhung seiner Exportquoten seine Handelsbilanz ausgeglichen. Made in Germany ist wieder gefragt. Deutsche Spitzenprodukte wie Mesut Ösil, Lukas Podolski, Per Mertesacker (alle Arsenal London), Miroslav Klose (Lazio Rom), Andre Schürrle (FC Chelsea) und Sami Khedira (Real Madrid) erzielen im Ausland Top-Erlöse.
Nur Spanien schickt mehr Kapital ins Rennen
Das Ergebnis: Während der Marktwert der deutschen WM-Mannschaft sich 2006 auf gerade einmal 177,15 Millionen Euro addierte und die schwarz-rot-goldenen Spitzenfußballer damit nicht einmal halb so viel auf die Geldwaage brachten wie ihre italienischen und brasilianischen Kollegen, während vor acht Jahren auch England, Spanien, Frankreich, Portugal, Argentinien und die Niederlande wertvollere Teams ins WM-Rennen schickten, hat sich der Humankapital-Stock von Fußball-Deutschland seither in absoluter wie relativer Hinsicht sprunghaft verbessert.
526 Millionen Euro schickt Deutschland nach Informationen von "transfermarkt.de" und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Brasilien ins Rennen - und damit deutlich mehr als Brasilien (467,5), Argentinien (391,5), Frankreich (379,5) und Geheimfavorit Belgien (349). Allein Spanien (622 Millionen) ist beim Kampf um den Titel noch etwas höher einzuschätzen als Deutschland. Will sagen: So dicht dran am Titel waren die Deutschen seit ihrem jüngsten WM-Gewinn (1990) noch nie.
Die Fußball-Blase wird platzen
Eine Chance haben wir trotzdem nicht. Was nicht zuletzt daran liegt, dass dem Geld keine realen Werte mehr entsprechen, in der Globalwirtschaft nicht und in der globalen Fußball-Wirtschaft schon gar nicht.
Der Wind, jeder weiß es, hat sich seit der Krise gedreht. Man investiert jetzt wieder vermehrt in realen Waren-Werten (Gold, Immobilien), wendet sich von digitalen, zeichenhaften Werten (Staatsanleihen, Derivaten) ab. Auf die Fußball-Welt bezogen, heißt das nichts anderes als: Die Blase des fiktiven, virtuellen, durchorchestrierten, passreichen, wuseligen Spielkonsolen-Fußballs (Lionel Messi, Mario Götze, Mesut Özil etc.) wird bei dieser WM platzen, ganz so wie die Blase der Bit-und-Byte-Finanzwirtschaft geplatzt ist.
Was die beiden Sphären - Fußballkünstler und Finanzjongleure - eint, ist ja nur zu evident: In beiden Sphären war (und ist) der Glaube verbreitet, die Wirklichkeit ließe sich mathematisch berechnen, optimieren, modellieren, ja: einem am Computer generierten Vorbild anverwandeln.
Virtuelle Künstlichkeit
Und tatsächlich schien die Wirklichkeit des Fußballs dabei zu sein, das Virtuelle in puncto Künstlichkeit zu übertrumpfen: Die Fußballspiele, die wir am Fernsehen verfolgten, waren in Sachen Präzision, Schnelligkeit und Ausdauer beinah so irreal wie ein joystick-gesteuertes Match am Computer. Am Ende wusste man nicht wirklich mehr, ob sich Marco Reus und Arjen Robben wie ihre Avatare oder ihre Avatare wie Marco Reus und Arjen Robben bewegten - bis sie endlich, vor drei, vier Wochen, an der breiten Brust von Sergio Ramos abprallten. Erst in diesem Moment war sich der verunsicherte Fußball-Fan wieder ganz gewiss: Hey, ja, Gott sei Dank: Es gibt ihn also doch noch, den "wahren" Fußball "echter" Menschen.
Wie deutsche Mittelständler von der WM profitieren
Der Berliner Mittelständler bewirtet die VIP-Gäste in vier WM-Arenen. Von dem großen Fußballturnier erhofft sich Inhaber Klaus Peter Kofler Zusatzeinnahmen von 30 Millionen Euro.
Das schwäbische Unternehmen rüstet die WM-Stadien mit Messgeräten aus. Das bringt 120.000 Euro mehr Umsatz. Nach der WM hofft Hirzel auf weitere Aufträge.
Mit Edelduschen in zwei Stadien ist der Bad-Spezialist aus Schiltach im Schwarzwald bei der WM dabei. 2013 erzielte Carsten Voß (Verkaufsleiter Lateinamerika) ein zweistelliges Umsatzplus in Brasilien.
Dank des High-Tech-Dachs aus Bayern fällt beim Finale im Maracanã-Stadion kein Schatten auf den Rasen. Die WM brachte 25 Millionen Euro Zusatzeinnahmen.
Alles verarbeitet, aber nichts verinnerlicht
Die breite Brust von Sergio Ramos ist daher für den deutschen Fußball das, was der Zusammenbruch des Bankhauses Lehman Brothers für die Wirtschaftswelt war: ein heilsamer Realitätsschock. Er holt den Fußball zurück aus der virtuellen Welt in die Wirklichkeit, aus der Fiktion seiner digitalen Verflüchtigung in die Realität seiner analogen Körperlichkeit.
Der Realitätsschock wird die deutsche Nationalmannschaft besonders hart treffen: eine Nationalmannschaft, in der lauter kleine Klinsmanns seit einem Dezennium in größtmöglicher Abgehobenheit mit größtmöglicher Berechenbarkeit Spielzüge und Systeme, den Gegner und das Wetter simulieren. Wahrscheinlich schon morgen, im Spiel gegen Portugal.
Löws Nationalelf-Hochleistungscomputer hat alle taktischen Innovationen aus Amsterdam ("totaler Fußball"), Barcelona ("Tika-Taka") und Dortmund ("Gegenpressing") verarbeitet, aber nichts verinnerlicht. Er geht nicht mit einem verifizierbaren Premiumprodukt ins Rennen, sondern mit digital hochgezüchteten Taktik-Derivaten und Technik-Avataren, mit denen sich in der virtuellen Welt Spitzenergebnisse erzeugen lassen, die sich in der Realwirtschaft des Fußballs letzten Endes aber als wertlos erweisen werden: Sergio Ramos lässt grüßen.
Nein, diesmal wird nicht Weltmeister, der was von der virtueller Optimierung, technisch hochgezüchteter Finesse und fiktiver Geschmeidigkeit versteht, sondern von Schweiß, Kraft, Athletik und Körperlichkeit. Die Analysten mit ihren Charts und Tabellen haben Sendepause und der Fußball kommt wieder zu sich: ohne viel Systemschnickschnack, mit Ecke, Elfer, Tor. Schöne Aussichten.